Die Karibik war die erste Region Amerikas, die von europäischen Staaten kolonisiert wurde – Kolumbus legte 1492 in Guanahani an, einer Insel der heutigen Bahamas. Zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert wurden 12,5 Millionen Afrikaner*innen versklavt, in die amerikanischen Kolonien verschleppt und dort in Goldminen oder auf den Zuckerrohr-, Kaffee- und Baumwollplantagen ausgebeutet. Nach der Abschaffung der Sklaverei importierte die Karibik erst Vertragsarbeiter*innen aus China, Indien oder den Philippinen. Tausende Arbeiter*innen wurden nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von Großbritannien, den Niederlanden und Frankreich aus den europäischen Kolonien für den Wiederaufbau ihrer Volkswirtschaften rekrutiert. Ebenso viele aus US-amerikanischen Gebieten stellten wiederum die billige Arbeitskraft, die den Nachkriegsboom der US-Wirtschaft stützte. Die unterschiedlichen Kolonialgeschichten, politischen Herrschaftssysteme und nationalen Ideologien karibischer Gebiete hatten unterschiedliche Wege in die Unabhängigkeit zur Folge: Auf Saint-Domingue erkämpften sich versklavte Menschen um 1804 die erste Unabhängigkeit in den Amerikas und gaben dem neuen Staat den indigenen Namen Haiti. Kuba erlangte 1898 seine Unabhängigkeit von Spanien. Die meisten britischen Kolonien in der Karibik wurden in den 1960er-Jahren unabhängig. Der Großteil der karibischen Territorien aber ist bis heute nicht souverän, sondern befindet sich zwischen dem Status einer Kolonie und partieller Unabhängigkeit, was für die Bevölkerung mit eingeschränkten Bürgerrechten einhergeht. Grafik herunterladen Bildungs- und Wirtschaftspolitik gegen 350 Jahre Sklaverei Seit 2014 fordern ehemalige britische Kolonien die Regierungen ehemaliger europäischer Kolonialmächte dazu auf, Reparationen für die langfristigen Folgen von Sklaverei und kolonialer Herrschaft zu leisten. Sie argumentieren, dass die Kolonialmächte die karibischen Länder, auch lange nach dem Ende der Sklaverei, unterentwickelt und schlecht vorbereitet in die Unabhängigkeit entlassen haben. Sie mussten in kurzer Zeit eine nationale Bildungs- und Wirtschaftspolitik entwickeln, die die Folgen der 350 Jahre dauernden Sklaverei und Kolonialzeit effektiv bekämpfen sollten. Auch im politischen Sinne handelt es sich allenfalls um partielle Unabhängigkeiten, was karibische Sozialwissenschaftler*innen auch als flag independence bezeichnen: Die Unabhängigkeit beschränke sich nämlich allein auf die Verwendung formaler nationaler Symbole wie Flaggen, Nationalhymnen und nationale Feiertage. Wichtige Entscheidungen würden dagegen weiterhin in den Zentren ehemaliger europäischer Kolonialmächte und der USA getroffen. Die nicht abgeschlossene – oder schlichtweg nicht erfolgte – administrative Dekolonisierung gibt weiterhin die Richtung der Migration vor. In den noch kolonisierten Gebieten der Karibik wie Puerto Rico, Guadeloupe oder Martinique nutzen finanziell gut gestellte Staatsangehörige ihre US- oder EU-Staatsbürgerschaft, um in die Metropole – also das »Mutterland« – zu migrieren und allgemein international mobil zu sein, da ein solcher Pass viele Möglichkeiten zu visafreiem Reisen gewährt. Im weltweiten Vergleich bieten Pässe der EU-Staaten – neben denen anderer wohlhabender Länder – die meisten visafreien Reiseoptionen. Diese Passvorteile untergraben aber gleichzeitig das Streben nach Unabhängigkeit. Denn die kolonisierten Gebiete würden an Mobilität verlieren und Zuschüsse aus der jeweiligen Metropole aufgeben, wenn sie autonom werden würden. In Fällen, in denen die Unabhängigkeit bereits beschlossen wurde und bald erfolgen soll, werden solche Vorteile sogar »gehortet«. Die Angst, die niederländische Staatsbürgerschaft zu verlieren, führte beispielsweise zu einem enormen Anstieg der surinamischen Migration in die Niederlande in den Jahren vor der Unabhängigkeit Surinames (1974/1975). Dieselbe Angst ist seitdem der Hauptgrund für den mangelnden politischen Druck im Streben nach Unabhängigkeit in der niederländischen Karibik. Ebenso löste die Ausweitung der US-Bürgerrechte auf die Bevölkerung aller karibischen Kolonien nach dem Zweiten Weltkrieg einen massiven Transfer von Arbeitsmigrant*innen aus der Karibik in die USA aus. Grafik herunterladen Im Gegensatz dazu sind unabhängige karibische Gebiete wie St. Kitts und Nevis, Dominica, Antigua und Barbuda und neuerdings auch Grenada und St. Lucia oft unmittelbar nach der Unabhängigkeit dazu übergegangen, ihre Staatsbürgerschaft auf dem globalen Markt zu verkaufen. Sie alle gehören zum britischen Commonwealth – ihre Staatsbürgerschaft ist Trumpf und wird als Entwicklungsstrategie genutzt: Wohlhabenden Investoren mit unvorteilhaftem Pass aus Ländern wie China oder Russland werden durch den Erwerb der Staatsbürgerschaft eines Commonwealth-Mitglieds globale Mobilitätsvorteile im Tausch gegen eine beträchtliche Investition von mehreren Hunderttausend Euro angeboten. Dank Papas Pass auf die Elite-Uni Sogenannte Investor-Citizenship-Programme ermöglichen es einer wohlhabenden, überwiegend männlichen, nichtwestlichen Minderheit, von immer mehr Commonwealth-Mitgliedstaaten in der Karibik die zweite Staatsbürgerschaft zu erwerben, wenn sie eine beträchtliche Investition in Immobilien oder Staatsanleihen tätigt. Solche Programme wurden unmittelbar nach der Unabhängigkeit von Großbritannien in St. Kitts und Nevis (1984) sowie in Dominica (1993) initiiert und nach der globalen Rezession von 2008 in formell unabhängigen karibischen Ländern in großem Umfang umgesetzt. Sie bieten Anleger*innen das Recht, visafrei in Zentrumsländer zu reisen, die Staatsbürgerschaft eines Commonwealth-Mitgliedstaates zu bekommen und von der Einkommensteuer befreit zu sein. Davon haben bislang vor allem chinesische, russische, aber auch libanesische, ägyptische und syrische Investor*innen profitiert, deren Pässe keinen visafreien Zugang zu den USA oder Europa erlauben. Die Begünstigten müssen dafür nicht in das Land ziehen und nicht einmal regelmäßig Zeit dort verbringen. Sie umgehen daher häufig den eigentlichen Migrationsprozess. Stattdessen verwenden sie die »Staatsbürgerschaftsprämie« für Geschäfts- und Reisezwecke auch dazu, ihre Kinder auf europäische Eliteschulen zu schicken. Staatsbürgerschaftsprogramme in ehemaligen britischen Kolonien mit visafreiem Zugang zu etwa 150 Ländern – darunter die gesamte EU, die USA und in den meisten Fällen auch Kanada – stellen sehr attraktive und vor allem »günstige« Alternativen auf einem globalen Markt dar. Während karibische Staaten ihre Common­wealth-Staatsbürgerschaft bis vor Kurzem für etwa 200.000 Euro verkauften, kostet ein maltesischer Pass, der die visafreie Einreise in 183 Länder gewährt, rund eine Million Euro. Bei der Einführung des maltesischen Programms dienten die Programme karibischer Länder als Vorbild. Maltas Regierung argumentierte, es gehe hier um das Prinzip, dass souveräne Staaten eigene, gegebenenfalls auch finanzielle, Kriterien für die Vergabe von Staatsbürgerschaftsrechten festlegen dürften, ohne eine Einmischung von außen fürchten zu müssen. Migration nur für Reiche Länder außerhalb der EU, die ihre ökonomischen Staatsbürgerschaftsprogramme nach 2017 eingeführt haben, so wie die Republik Moldawien, versuchen, die karibischen Programme zu unterbieten, um konkurrenzfähig zu bleiben. Sie bewerben ihre eigenen Programme explizit damit, dass diese »zehnmal billiger sind als auf Malta und auch billiger als in St. Kitts und Grenada«. Die internationale Migration wird dadurch weiterhin nur einer kleinen Minderheit wohlhabender Investor*innen erleichtert, während sie Arbeitsmigrant*innen und Geflüchteten, die nicht über diese finanziellen Mittel verfügen, zunehmend erschwert wird. Zwischen Juli 2018 und Juni 2019 gewährte Dominica 2.100 Investor*innen die Staatsbürgerschaft – eine neue Rekordzahl. Anhand noch kolonisierter Gebiete in der Karibik wird deutlich, dass sich die westliche Grenze der EU außerhalb des europäischen Kontinents befindet, genauso wie einige andere selten thematisierte EU-Grenzen. Das beste Beispiel dafür sind die Brexit-Verhandlungen, für die die Frage der Grenzen von zentraler Bedeutung ist. Auf EU-Ebene wie in den Medien drehten sich die Diskussionen über Grenzen nach dem Brexit um die Probleme, die an der irischen Grenze und in Gibraltar auftreten. Beide sind erst dadurch sichtbar geworden, dass ihr ambivalenter Status nach dem Brexit Migrations-, Zoll- und Handelschaos auszulösen droht. Gleichzeitig hatten die britischen Überseegebiete, die kein Teil der EU sind, im Referendum nicht mit abstimmen dürfen. Anguilla beispielsweise ist seit 1650 britisches Territorium und eine der ältesten Kolonien Großbritanniens. Das Gebiet grenzt über einen »eigenen Ärmelkanal« in der Karibik – den Anguilla-Kanal – an Überseegebiete Frankreichs und der Niederlande und ist sowohl für den Handel als auch für den Transport von diesen beiden EU-Territorien abhängig. Größere Flugzeuge nach Anguilla können nur auf der niederländischen Insel Sint Maarten landen, während der einzige Frachthafen, über den Anguilla die meisten Waren erhält, im französischen Teil der Insel, St. Martin, liegt. Anguilla ist auf eine »sanfte Grenze« zu EU-Gebieten viel mehr angewiesen als Irland oder Gibraltar, wird als Kolonialgebiet aber nie in öffentliche Verhandlungen einbezogen. Grafik herunterladen Die EU ist Anguillas einzige bedeutende Quelle für Entwicklungshilfe und finanziert derzeit Wiederaufbauprojekte nach dem Hurrikan Irma. Diese Mittel fallen nach dem Brexit weg, während Anguillas Bürger*innen sowohl die EU-Staatsbürgerschaft als auch den uneingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung, Postdiensten und Auslandsreisen verlieren, für die sie die EU-Grenze zur Nachbarinsel passieren müssen. Die Regierung von Anguilla hat mehrere Berichte verfasst, die auf die Folgen eines harten Brexits aufmerksam machen. Die britische Regierung ist bislang nicht darauf eingegangen. Vergessene Grenzen noch kolonisierter Territorien wie Anguilla und Puerto Rico und der Verkauf von Staatsbürgerschaften unabhängiger karibischer Gebiete machen die aktuellen Auswirkungen der seit Langem bestehenden kolonialen Verflechtungen systematisch sichtbar. Die Geschichte der Karibik ist auch eine europäische und US-amerikanische. Ihre Bedeutung erschließt sich jedoch erst, wenn die Geschichte und Gegenwart kolonisierter Regionen zentraler Bestandteil der Analyse des kapitalistischen Systems werden. Aktuelle Ausgabe Dieser Text erschien in der 17. Ausgabe von KATAPULT. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr. KATAPULT abonnieren