Drei mutmaßliche Separatistenkämpfer zerren am 11. August eine gefesselte Frau über den Boden und schlagen sie. Dann schneiden die Männer der 35-jährigen Mutter von vier Kindern die Kehle durch. Sie soll mit dem kamerunischen Militär kollaboriert haben. Ein Video dokumentiert die Szene. Sie ist ein weiteres Kapitel in einem brutalen Konflikt, der international kaum Aufmerksamkeit erfährt. Im Südwesten Kameruns versuchen Aufständische seit 2017, eine unabhängige Republik Ambazonien zu erkämpfen. Sie beklagen die Marginalisierung der dort lebenden englischsprachigen Minderheit durch die von der französischsprachigen Mehrheit beherrschte Regierung. Militär und Separatisten sind für schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Soldaten waren im Februar an einem Massaker im Dorf Ngarbuh beteiligt. Mindestens 21 Zivilisten starben, darunter 13 Kinder. Die Bewohner sollen Separatisten Unterschlupf gewährt haben. Regelmäßig kommt es zu Entführungen, Kämpfen und Morden. Auch Kliniken und humanitäre Helfer geraten immer wieder in Gefahr. Schon vor der Covid-19-Pandemie konnten etwa 70 Prozent der Kinder in den vom Konflikt betroffenen Regionen nicht zum Unterricht gehen. Immer wieder griffen Separatisten Schulen und Lehrer an, um einen Bildungsboykott zu erzwingen. Grafik herunterladen Präsident seit 38 Jahren Die Wurzeln des Konflikts liegen in der Kolonialgeschichte des Landes. Im Ersten Weltkrieg beendeten die Alliierten die deutsche Herrschaft über Kamerun. Ohne die Bevölkerung zu konsultieren, teilten Frankreich und Großbritannien das Territorium unter sich auf. Nach der Unabhängigkeit des französisch kontrollierten Teils im Jahr 1960 schloss sich ein Teil des britischen Gebiets dem neuen Staat an. So kam das ansonsten frankophone Kamerun zu einem kleinen anglophonen Landesteil. Zunächst war das neue Staatskonstrukt föderativ organisiert, doch rasch entwickelte es sich zum Einheitsstaat. Die Staatsgewalt wurde fortan zentralistisch aus der Hauptstadt im französischsprachigen Teil des Landes ausgeübt. Mit der Zeit sahen sich viele Anglophone politisch und sozial benachteiligt. Der autokratische Führungsstil der Regierung verstärkte diese Tendenzen. Seit fast 38 Jahren wird Kamerun von Präsident Paul Biya regiert. Mehr als drei Viertel der Bevölkerung haben nie einen anderen Politiker als den 87-Jährigen an der Spitze des Staates erlebt. Sein Vorgänger Ahmadou Ahidjo regierte 22 Jahre lang. Kamerun ist eines der ärmsten Länder der Welt. Die Jugend ist von politischer und gesellschaftlicher Teilhabe weitgehend ausgeschlossen (mehr zu den Anfängen des Konflikts in unserem Hintergrundartikel). Rund 680.000 Menschen sind mittlerweile durch die Gewalt vertrieben worden. Ganze Dörfer wurden niedergebrannt. Mehr als 3.000 Menschen starben. Zögerliche Verhandlungsversuche zwischen Regierung und Separatisten verliefen ergebnislos. Zudem sind die Aufständischen gespalten, das macht eine Lösung noch komplizierter. Im Dezember sollen erstmals Wahlen von Regionalräten in Kamerun stattfinden. In der Verfassung sind solche schon seit 1996 vorgesehen. Die Regierung verkauft das als „großen Sprung“ zu einer Dezentralisierung des Staates und einer Lösung des Konflikts in den anglophonen Regionen. Doch den Räten werden kaum Befugnisse zugestanden. Eine Rückkehr zum Föderalismus, wie ihn viele gemäßigte Aktivisten im Südwesten Kameruns fordern, ist damit erst einmal erledigt. Die Führer der radikalen Separatisten haben die Wahlen bereits als „illegitim“ abgetan. Auch wichtige Oppositionsparteien wollen den Urnengang boykottieren: Mit freien und fairen Wahlen wäre unter den gegebenen Umständen kaum zu rechnen. Die am meisten vernachlässigte Fluchtkrise der Welt Neben dem Konflikt im anglophonen Südwesten hat Kamerun im Norden mit Attacken der dschihadistischen Terrormiliz Boko Haram zu kämpfen. Dort wurden weitere 320.000 Menschen vertrieben. Außerdem sind Hunderttausende Menschen aus der kriegszerrütteten Zentralafrikanischen Republik ins Land geflohen. Im Sommer führte Kamerun das zweite Jahr in Folge die Liste der am meisten vernachlässigten Fluchtkrisen der Welt an. Die Auswertung des Norwegischen Flüchtlingsrats basiert auf drei Kriterien: Wie viel mediale Aufmerksamkeit erhält eine Krise, wie dramatisch ist die humanitäre Hilfe dort unterfinanziert und wie stark bemühen sich lokale und internationale Akteure um den Schutz von Zivilisten und eine Lösung des Konflikts? Laut dem Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) wurden 2019 nur 44 Prozent der benötigten Hilfsgelder für Kamerun bereitgestellt. Für dieses Jahr wurde der landesweite Finanzbedarf für Hilfsoperationen auf 391 Millionen Dollar taxiert. Davon wurden bislang nur 28 Prozent zugesagt. In den anglophonen Regionen ist die Lage noch ernster: Das OCHA bezifferte den Bedarf an humanitärer Hilfe dort auf über 145 Millionen US-Dollar. Nur 16 Prozent dieser Summe konnte bis Ende Juli zusammengekratzt werden. UN-Mitarbeiter beklagen zudem, dass ihre Arbeit von staatlicher Seite behindert werde. Kritischen Menschenrechtsorganisationen wirft die Regierung vor, „staatliche Institutionen“ destabilisieren zu wollen. Dem Machtapparat um Paul Biya wäre es nützlich, wenn der Konflikt von der Öffentlichkeit weiterhin unbeachtet bleibt. Aktuelle Ausgabe KATAPULT ist gemeinnützig und unabhängig. Wir finanzieren uns durch Spenden und Abonnements. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr. KATAPULT abonnieren