Zum Inhalt springen

Indien

Demokratie der Wenigen

Von

Artikel teilen

Nach den Wahlen zur Volksversammlung am 16. Mai 2014 erscheint 67 Jahre nach Indiens Unabhängigkeit eine neue Ikone auf der politischen Bühne Indiens: Mit 282 von 543 Sitzen erringt die rechts-nationale Indische Volkspartei, die Bharatiya Janata Party (BJP), zwar nur eine knappe Mehrheit im Unterhaus, der Lok Sabha, doch lässt sie damit alle anderen Parteien weit hinter sich.

Der ehemalige Ministerpräsident von Gujarat, Narendra Modi, der sich im Wahlkampf als Vertreter des »neuen Indien« darstellte, ist nun Indiens neuer Premierminister. Wie der »Vater« der Nation, Mahatma Gandhi, stammt auch Modi aus Gujarat. In seiner Antrittsrede folgt Modi seinem Beispiel und verspricht, seine Zeit als Premierminister der Verbesserung der Lage der Armen Indiens zu widmen:

»Deshalb ist die neue Regierung den Armen, den Millionen von Jugendlichen und Müttern und Töchtern, die nach Respekt und Ehre streben, gewidmet. Dorfbewohner, Bauern, Dalits und die Unterdrückten, diese Regierung ist für sie, für ihre Hoffnungen und das ist unsere Verantwortung. […] Und deshalb ist unser Traum, ihre Träume zu erfüllen.«

Ob ihre Träume nun endlich wahr werden, scheint zweifelhaft. Aber wie kam es zu diesem Sieg? Und welches Gesicht trägt das »neue Indien«, das Modi und seine Partei im Wahlkampf unermüdlich beschworen haben, wirklich? Angesichts der Tatsache, dass im 21. Jahrhundert jeder sechste Mensch Inder/in sein wird, erscheinen diese Fragen nicht nur für Indien-Interessierte aktuell, sondern sind auch von globalem Interesse.

Eine ganz andere Sicht auf den Wahlsieg der Volkspartei und Modi eröffnet der Autor und Journalist Pankaj Mishra. Er verweist auf den Einfluss und das Geld der großen Korporationen und Industriemagnaten wie Ratan Tata und Mukesh Ambani, die den Wahlkampf der BJP großzügig finanziert haben und hinterfragt daher kritisch die Loyalität Modis gegenüber den Armen und Ausgestoßenen der indischen Gesellschaft.

Sein Erbe als Ministerpräsident zeichnet sich vornehmlich durch den Transfer – durch Privatisierung oder direkte Geschenke – nationaler Ressourcen an die größten Korporationen des Landes aus. Seine engsten Verbündeten – Indiens wichtigste Geschäftsleute – haben daher ihre Medienteilmärkte der Modi-Verklärung zur Verfügung gestellt; abweichende Journalisten wurden entfernt oder zum Schweigen gebracht.

Die Bedeutung der indischen Mittelklasse

Insofern unterscheidet sich der ehemalige Teeverkäufer also nicht von jenen korrupten Politikern, die er so oft dafür schilt, dass sie ihre Macht hauptsächlich dem Einfluss anderer verdanken. Doch der Wahlsieg der BJP kann nicht allein durch die Unterstützung Einzelner erklärt werden. Vielmehr muss hier jene Bevölkerungsschicht thematisiert werden, die seit der wirtschaftlichen Öffnung 1990 zur treibenden politischen Kraft Indiens geworden ist, nämlich die neue indische Mittelklasse.

Diese Gruppe treibt Indiens wachsenden Konsum hauptsächlich an und hat damit das Interesse von Soziologen und Politikwissenschaftlern geweckt. Die Liberalisierung der Wirtschaft und die Abwanderung der gut Ausgebildeten haben das politische Gewicht der Mittelklasse in der Heimat entscheidend erhöht. Nachdem sie im Ausland erfolgreich geworden sind, entdecken die »Non-Resident Indians«6, die in den USA, Kanada, dem Vereinigten Königreich und Australien arbeiten, nun ihre Wurzeln und identifizieren sich zunehmend mit dem neuen, starken Indien und der Ideologie der Hindutva, also des politischen Hinduismus, den die BJP vertritt.

Laut Christiane Brosius fokussiert die Stadt die soziale Einwirkung der neuen Mittelklasse. Tatsächlich scheint das neue Indien ein (hyper-)urbanisiertes Land zu sein: Nirgends schreitet die wirtschaftliche Entwicklung so schnell voran wie hier und nirgends zeigt sich so klar wie hier, wie wenig vom neuen Wohlstand unten ankommt:

»Die indische Regierung hat immer wieder versprochen, bis zum Jahr 2010 die Armut zu beseitigen. Doch obwohl viele Studien eine schnelle Steigerung des Wohlstands der aufstrebenden Mittelklassen bis hin zu den 'Superreichen' prognostizieren, bleibt die Zahl der unterprivilegierten Haushalte in Indien erstaunlich stabil. Weiterhin wird die Befürchtung geäußert, dass die Beseitigung der Armut nur ein Slogan der Neo-Liberalisierung sei, ein Teil des 'leuchtenden Indien', welches keine 'dunklen Flecken' auf seiner glänzenden Fassade erlaubt.«

Das Gesicht von Indiens Städten und vor allem das der Großstädte ist unleugbar von dunklen Flecken verdeckt, die zeigen, dass die indische Ökonomie noch immer wesentlich von der billigen Arbeitskraft der unteren Kasten, den Dalits (als Unberührbare bezeichnet), der außerhalb des Kastensystems stehenden Gesellschaftsgruppe, den OBC's (other backward castes), und den Wanderarbeitern abhängt. In Mumbai machen die Slumbewohner tatsächlich keine Minderheit aus, sondern 50% der Gesamtbevölkerung.

Die auf urbanem Brachland, unter Highways, auf öffentlichen Plätzen und dem Bürgersteig stehenden, notdürftigen Behausungen dieser Menschen werden zwar stetig von der Stadt »bereinigt«, jedoch kehren die Armen immer wieder zurück, da sie nur hier Arbeit finden. Die Tatsache, dass sich die Zahl der Slumbewohner zwischen 1981 und 2001 verdoppelt hat, zeigt, dass die wirtschaftliche Liberalisierung viel zur Polarisierung zwischen Arm und Reich beigetragen hat. Modis Versprechen, die Armut zu bekämpfen, erscheint daher als primär rhetorisches Zugeständnis, wie es auch seine Vorgänger im Amt bereits pflegten.

Zwar hat es die indische Volkspartei verstanden, durch ihre Fokussierung auf hinduistische Werte auch die Armen und Ungebildeten anzusprechen, die ihre kulturellen Werte und Traditionen von der Globalisierung bedroht sehen, jedoch hat sie der Mittelklasse gleichzeitig politische Priorität eingeräumt. Dieser Umstand zeigt sich deutlich in den Verdrängungskämpfen der Großstädte. Obwohl viele wohlhabende Stadtbewohner in »gated communities« leben, die von einem Heer Angestellter am Laufen gehalten werden, welche sich daher in unmittelbarer Nähe ansiedeln, ziehen immer mehr Bürgerinitiativen gegen die Besetzer bzw. Slumbewohner in den Kampf.

Dabei geben Stadt und Justiz fast immer dem Interesse Ersterer an einem sauberen und bedrohungsfreien Wohnumfeld den Vorrang vor den Bedürfnissen der Dienstleistungsklasse. Interessanterweise berufen sich die Vertreter solcher Initiativen aber auf das Recht der Allgemeinheit, eine lebenswerte Umgebung und deklarieren ihre Interessen somit implizit als Allgemeininteressen. Gleichzeitig werden immer mehr Flächen privatisiert und überwacht und somit der Nutzung durch andere entzogen. Das ist kennzeichnend für die zunehmend aggressive Art, auf die die indische Mittelklasse ihre Bürgerrechte für sich einfordert, wobei sie von den Medien zunehmend Schützenhilfe erhalten.

Da Wohlstand unabdingbar mit dem Zugang zu Bildung verknüpft und Korruption weitverbreitet ist, bleibt er denen, die nichts haben, auf das sie aufbauen können verwehrt.

Die Ausgrenzung der Muslime

Aggressive Verdrängung und Marginalisierung erfährt auch eine andere Gruppe, nämlich Indiens Muslime. Obwohl überwiegend säkular orientiert, werden Muslime in Fernsehen, Internet und Filmen häufig als ungebildete, mittelalterlich gesinnte und bösartige Menschen verunglimpft. Hier zeigt sich eine Übereinstimmung mit dem politischen Aufstieg der indischen Volkspartei in den späten 1990ern, als sich Muslime zunehmend Gewalt und Hass ausgesetzt sahen, welcher in den Massenunruhen von Mumbai (1992/93) und Gujarat (2002) kulminierte.

Dass Modi, damals Ministerpräsident von Gujarat, nicht nur die systematische Tötung von hunderten Muslimen als Vergeltung für einen vermeintlichen Brandanschlag von Muslimen auf einen Zug von Hindu-Pilgern in Kauf genommen hat, sondern der Polizei sogar befohlen haben soll, den Hindu-Radikalen beim Töten freie Hand zu lassen, wird von seiner Partei wie auch von den Massenmedien zwar bestritten. Jedoch zeigen unabhängige Recherchen wie die des investigativen Magazins »Tehelka«, dass Politik und Justiz die Aufklärung der Vorfälle zu verhindern suchten.

In »No God In Sight« entwirft der Autor Altaf Tyrewala, ein ehemaliger Wirtschaftsjournalist, ein fiktionales und doch schmerzhaft realistisches Bild vom Leben der Muslime in Mumbai zehn Jahre nach den Aufständen. In diesem Buch sehen sich die muslimischen Charaktere immer noch täglichen Anfeindungen und Diskriminierung ausgesetzt. Und wenn der wirtschaftliche Aufstieg auch größere Freiheit verheißt, bleibt diese doch auf den Konsum beschränkt.

So verdrängt die Hoffnung auf wirtschaftlichen Aufstieg alle anderen Ansprüche auf persönliches Glück. Neben Krishna und Ram – den Lieblingsgöttern der Hindu-Nationalisten, in deren Namen sie 1992 eine Moschee aus dem 16. Jahrhundert in Ayodhya zerstörten und damit landesweite Aufstände auslösten – sind Ganesh und Lakshmi, die Götter des Wohlstands, wohl die meistverehrten im Hindu-Pantheon.

Die Orientierung auf eine neoliberale, marktradikale Form des Kapitalismus, die die BJP vertritt und die Renaissance eines Hindu-Nationalismus, der über viele Jahrzehnte brachlag, sind nicht etwa Phänomene, die lediglich zufällig zeitgleich auftreten, vielmehr bedingen sie einander gegenseitig. Da Wohlstand unabdingbar mit dem Zugang zu Bildung verknüpft und Korruption weitverbreitet ist, bleibt er denen, die nichts haben, auf das sie aufbauen können verwehrt. Auch die Zugehörigkeit zu einer niederen Kaste ist oft immer noch ein Hindernis. Das enorme Frust- und Gewaltpotential, das so aus der Unmöglichkeit wirtschaftlicher Teilhabe erwächst, wird also umgelenkt auf Muslime aber auch auf »Terroristen«, Pakistaner und andere Feindbilder.

Der gegenwärtige Zustand der indischen Demokratie

»'Demokratie in Indien', warnte Bhimrao Ramji Ambedkar, Hauptverantwortlicher für den Entwurf der Verfassung Indiens, [...] ist nur ein oberflächlicher Belag auf einem indischem Boden, der im Wesentlichen undemokratisch ist.' Ambedkar betrachtete Demokratie in Indien als ein Versprechen von Gerechtigkeit und Würde für die verachteten und verarmten Millionen des Landes, das nur durch eine intensive politische Auseinandersetzung erreicht werden kann.

Mehr als zwei Dekaden war diese Möglichkeit nun einer Zangenbewegung ausgesetzt: einer Form von globalem Kapitalismus, die nur eine kleine Minderheit bereichern kann, und einem fremdenfeindlichen Nationalismus, der praktischerweise immer Sündenböcke für das großangelegte sozioökonomische Scheitern und Frustration liefert.«

Letztlich scheint das neue Indien (zu) tief verwurzelt im alten Indien. Es hat im neoliberalen Kapitalismus einen fruchtbaren Nährboden gefunden, auf den sich die Paradigmen des alten Indien oft nahtlos übertragen lassen. Diese andere Moderne – wenn man sie denn so bezeichnen will – definiert sich durch ihre radikale Umsetzung eines Gemeinwesens, indem der Mächtige bzw. Wohlhabende treibende Kraft und Maßstab allen Handelns ist. Somit muss auch die weitverbreitete Vorstellung eines »archaischen Indien«, das im vermeintlichen Widerspruch zur technokratischen Moderne steht, grundlegend revidiert werden.

Nicht im Aufeinandertreffen von jahrtausendealten Traditionen und postmoderner Lebenswirklichkeit liegt das Problem, sondern in der Tatsache, dass sich die Gesellschaftsvorstellungen des alten Indien ein Wirtschaftssystem wie das aktuelle aneignen und bestehende Unterschiede immer unüberwindbarer werden. Hier scheint die Logik der Aufklärung, die von einer Bindung des politischen Fortschritts an den ökonomischen Fortschritt ausgeht, obsolet und kann nicht länger zur Erklärung herangezogen werden. Welchen Weg das neue Indien auch immer geht, es kann nicht unter der Linse westlicher und europäischer politisch-historischer Entwicklungen betrachtet und verstanden werden.

Autor:innen

Forschungsschwerpunkte
Neue Englische Literatur
Stadtgeografie
Regional- und Wirtschaftsplanung

Neueste Artikel

Palästina in die UNO?

Die USA lehnen eine palästinensische UN-Mitgliedschaft ab und legen im UN-Sicherheitsrat ihr Veto ein. Die Resolution bekam dennoch relativ viele Ja-Stimmen. Zwölf Staaten der 15 Mitglieder des Sicherheitsrates stimmten für die Resolution. Großbritannien und die Schweiz enthielten sich.

Bands auf Welttournee

Die Welt, wenn es nach den Welttourneen von Bands geht.

Am anderen Ende der Welt

Tahiti bricht damit den Rekord für den am weitesten entfernten olympischen Medaillenwettbewerb, der außerhalb der Gastgeberstadt ausgetragen wird.