Heute, unter den Bedingungen des regionalen Bürgerkrieges im Vorderen Orient, suchen Experten und Politiker nach den Gründen für die Funktionsunfähigkeit und die krisenhafte Entwicklung dieser Region. Eine Ursache ist mit Sicherheit die Konstruktion des Vorderen Orients nach dem Ersten Weltkrieg durch die beiden westlichen Großmächte Großbritannien und Frankreich. Einflussgebiete, wie die Kolonialpolitiker sie sich vorgestellt hatten, wurden Staaten. Politische Versprechungen und Pläne wandelten sich zu politischen Einheiten. Es gab Staaten, die in ihrer ethnisch-konfessionellen Zusammensetzung und in ihren Grenzen von den europäischen Mächten verteidigt werden mussten; auch heute müssen Staaten wie der Irak und Syrien durch massives Eingreifen von regionalen und internationalen Akteuren in ihrer Existenz gesichert werden. So haben die USA und dann der Iran den Fortbestand des Staates Irak nach 2003 gesichert. Heute kann der Irak als »Joint Venture« der einstigen Feinde USA und Iran betrachtet werden. Zögen die iranischen und amerikanischen Militärberater aus dem Irak ab, würde der Islamische Staat (IS) höchstwahrscheinlich in kurzer Zeit den Rest des irakischen Territoriums erobern. Der Irak wäre nur noch eine Provinz des IS-Kalifats. Ähnlich verhalten sich die Dinge in Syrien. Russland und Iran sind die Schutzherren des Alevitenherrschers Bashar al-Assad. Ohne die Schutzherren in Teheran und Moskau hätte die arabisch-sunnitische Mehrheit die Macht in Damaskus übernommen. Es gab aber Ethnien und Völkerschaften, die keinen eigenen Staat erhalten sollten. Zu diesen gehören die Palästinenser und die Kurden: zwei Völker, die es bis heute nicht geschafft haben, ihre eigene Staatlichkeit zu erlangen. Der Prozess der Staatenbildung unterlag, anders es als die Satzung des Völkerbundes vorgab, nicht dem Gebot des Selbstbestimmungsrechts, sondern der herrschaftlichen Berechnung der Siegermächte. Wenn das Selbstbestimmungsrecht einem imperialen Plan im Wege stand, musste das Prinzip als nicht angemessen betrachtet werden. Die Geburt der palästinensischen Nation So stand dem Recht der Palästinenser ein Versprechen der Briten an die zionistische Weltorganisation im Weg, nämlich die Balfour-Deklaration zur Gründung einer jüdischen Heimstatt in Palästina. Die Kurden gingen leer aus, trotz des Vertrags von Sèvres (1920) zwischen den Siegermächten und der Türkei, der die Gründung eines unabhängigen Kurdenstaates vorsah, weil zwei Projekte der Briten im Weg standen. Das eine Projekt war die Gründung eines erdölreichen mesopotamischen Staates mit dem Namen Irak und der Ausgleich mit der Türkei. Aus strategischen und pragmatischen Gründen wurde die türkische Republik von den Westmächten anerkannt. Diese Republik umfasste aber etwa 50 Prozent des kurdischen Volkes. Der Führer der neuen Türkei, Kemal Atatürk, legte die Grundlagen für die kulturelle Angleichung aller Ethnien in der neuen Republik. Die Folgezeit zeigte aber, dass diese Prozesse nicht rückgängig zu machen sind. Neue Bedingungen produzieren ein neues Bewusstsein, das von neuen Eliten getragen wird. Das zionistische Projekt wurde 1948 nach dem Unabhängigkeitskrieg erfolgreich abgeschlossen. Die Palästinenser waren bis 1959 nur noch ein Problem von UNRWA (The United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East). Erst 1959 kam es zur Wiedergeburt, vielmehr zur Geburt einer palästinensischen Nation. Denn vor der Gründung der ersten palästinensischen Nationalorganisation Fatah (Bewegung zur nationalen Befreiung Palästinas) waren die Inhalte eines palästinensischen Nationalismus eher vage und vermischt mit dem allgemeinen Wunsch der Araber nach Freiheit und Einheit. Jassir Arafat (1929-2004) und seine Kameraden schlugen neue Töne an: Befreiung des Volkes und des Landes der Palästinenser. Es folgten weitere Organisationen und Bewegungen. Aber nur die Fatah blieb konsequent palästinensisch, ohne Beimischung von panarabischer Romantik eines panarabischen Staates von Marokko bis zum Golf. Befreiung im eigenen Staat war und ist das Ziel der Fatah gewesen. Die Kolonie der Türkei Bei den Kurden verlief die Geschichte ziemlich anders. Die Kurden fanden sich als Minderheit in autoritären Staaten der Dritten Welt wieder: in der »Entwicklungsdiktatur« Kemal Atatürks und im Staat Irak. Die kurdischen Nationalisten glaubten zunächst, dass der allgemeine politische und soziale Wandel in ihren Ländern zur Lösung ihrer nationalen Frage beitragen könne. Daher erhofften sie in der nationalen Autonomie einen möglichen Ausweg. Auch als die irakischen Kurden 1961 keinen anderen Weg zur Befreiung sahen als den bewaffneten Kampf, hieß ihre Parole: Autonomie für Kurdistan, Demokratie für den Irak. In der Türkei kannten die Kemalisten (Anhänger Atatürks) kein »Kurdenproblem«. Die Kurden hatten faktisch das Recht, Türken zu werden. Das Tragische dabei war die Rückständigkeit des Kurdenlandes. Da die Kurden nicht in das soziale und politische System integriert waren, konnten sie nur schlecht in die Türkei eingegliedert werden. Konsequent war die PKK (Kurdische Arbeiterpartei), als sie bei ihrer Gründung 1978 Kurdistan als Kolonie des türkischen Staates deklarierte. Kurdistan solle befreit werden, hieß die Parole der PKK. Alle anderen Lösungen wurden als eine Kaschierung des Kolonialismus betrachtet. Die irakischen Kurden suchten indes nach einer politischen Regelung im Rahmen des Irak. Sie setzten diesen Kurs fort, auch als die UN-Schutzzone 1991 (gemäß Resolution 688/1991 des Sicherheitsrates der UNO) errichtet wurde und die Westmächte die Rückkehr Saddams in das Kurdengebiet verhinderten. Dilemma des eigenen Staates Bei den Palästinensern begann mit dem Friedensprozess Anfang der Neunzigerjahre ein pragmatischer Kurs hinsichtlich der Finalität der Verhandlungen mit Israel. Die Zweistaatenlösung setzte sich bei den Palästinensischen Nationalisten durch. Hamas (Islamische Widerstandsbewegung) ist seit der »Ersten Intifada« Ende 1987 die politische Kraft, die Palästina als Ganzes befreien will. Also wurde der Wandel, der innerhalb der PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation) stattgefunden hatte, von der Hamas verworfen. Abgesehen von wenigen Akteuren in den Reihen der weltlichen Palästinenser, wie etwa Sari Nussaibah, kam es nicht zu einer revisionistischen Positionierung. Sari Nussaibahs Ansatz ist intellektuell von großer Bedeutung. Er geht von der Funktion des Staates aus. Wenn den Palästinensern uneingeschränkte bürgerliche Rechte garantiert würden, dann wäre es nicht erheblich, ob der Garant der Staat Israel oder ein Palästinenserstaat ist. Nussaibah, einst politischer Repräsentant der Palästinenser, kennt implizit die Probleme, die mit der Zweistaatenlösung verbunden sind. Ist diese Lösung machbar? Die Frage scheint ihn tief zu beeinflussen. Der kurdische Revisionismus wurde nicht von einem unabhängigen Intellektuellen à la Nussaibah in die Diskussion gebracht, sondern von dem Chef der PKK, Abdullah Öcalan. Öcalan weist die Kolonialismus-These zurück. Die Türkei hat sich als Nationalstaat entwickelt. Der Gründer des Staates, Atatürk, ist aber nach den revisionistischen Ansichten Öcalans nicht dafür verantwortlich zu machen. Es waren eher seine Nachfolger. Die türkische Demokratie ist deswegen mangelhaft, weil ein Nationalstaat dieser Art keine Demokratie sein kann. Das Projekt Öcalan, das von seiner Partei, der PKK, übernommen wurde, sieht eine Umwandlung des Staatensystems des Vorderen Orients in demokratische Staatenbünde vor. Das Projekt Öcalan, das von seiner Partei, der PKK, übernommen wurde, sieht eine Umwandlung des Staatensystems des Vorderen Orients in demokratische Staatenbünde vor. Diese Assoziationen weisen mehr zivilgesellschaftliche Elemente auf als ausschließlich auf Staatsinteressen ausgelegte Strukturen. Auch auf dem Feld der Ökologie und Ökonomie sollen die Vereinigungen mehr Rechte erlangen als die staatlichen Institutionen. Der Sinneswandel Öcalans nach seiner dramatischen Verhaftung in Nairobi Ende 1998 hat damit zu tun, dass er auf der Suche nach einer neuen Identität für seine eher stalinistische Organisation den russisch-amerikanischen Ex-Anarchisten Maury Bookchin entdeckte. Von Bookchin übernahm er drei zentrale Ideen: Wandel des Nationalstaates zu demokratischen Assoziationen, die Relevanz der Ökologie als Gegenpol zur kapitalistischen Ökonomie und die Genderthematik, um durch Selbstbestimmung der Frauen neue Strukturen zu ermöglichen. Offenes Ende Obwohl bei den Palästinensern und bei den Kurden kein deutliches Zeichen einer baldigen Erlangung der Eigenstaatlichkeit sichtbar ist, scheint es, dass die Palästinenser im Vergleich zu den Kurden eher »die Befreiung in den Staat« erzielen könnten. Eine Zweistaatenlösung muss auch im Interesse Israels sein, weil der kulturelle Charakter des Staates Israels nicht durch die Palästinenser in Frage gestellt wird. Bei den Kurden sind revisionistische Strömungen in der Mehrheit. Die PKK lehnt basierend auf Öcalans Überlegungen den Kurdenstaat ab. Die kurdischen Verbündeten des Iran im Irak, die Patriotische Union Kurdistans, die Gorran-Bewegung (Wandelbewegung) und die kurdischen Islamisten haben den Ruf des Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan Masud Barzani nach Unabhängigkeit der Kurden abgelehnt. Hier spielen historische Erfahrungen eine Rolle. Tausende von Jahren waren die Kurden die Gefolgsmänner des persischen Reiches. Später war Nordkurdistan (Türkisch-Kurdistan) ein Bestandteil des Osmanischen Reiches. Die PKK und ihre legale Organisation, die HDP (Partei der demokratischen Völker), plädieren für einen unabhängigen palästinensischen Staat, lehnen aber ihren eigenen Staat ab. Kuriositäten des Morgenlandes!