Im November 2014 ließ Familienministerin Schwesig aufhorchen, als sie sich der Forderung nach einem stellvertretend von Eltern wahrgenommenen Wahlrecht für Kinder anschloss. In der Sache gestehen die Anhänger eines solchen Wahlrechts allen Kindern von Geburt an ebenso wie den Erwachsenen grundsätzlich das Recht auf eine Wählerstimme zu, welches allerdings für den konkreten Fall der Stimmabgabe von ihren gesetzlichen Vertretern ausgeübt wird. Im Regelfall sind dies die Eltern der Kinder. Solche vikarischen Vornahmen sind in anderen Bereichen unseres gesellschaftlichen Lebens nichts Ungewöhnliches. Kinder sind von ihrer Geburt an rechtsfähig und sie können Steuerzahler, Eigentümer, Vermieter oder Aktionäre (auch mit Stimmrecht) sein, deren Geschäfte bis zur Erlangung der gesetzlich geregelten vollen Geschäftsfähigkeit von den Eltern oder anderen zuständigen Erziehungsberechtigten ausgeübt werden. Die sozialdemokratische Bundesministerin steht mit diesem Vorschlag nicht allein. Andere prominente Sozialdemokraten wie Lore Maria Peschel-Gutzeit, der ehemalige Hamburger Bürgermeister Peter Schultz oder Wolfgang Thierse haben schon vor Längerem entsprechende Initiativen unterstützt. Zur politisch farbenfrohen Gruppe derjenigen, die sich für ein solches Wahlrecht aussprechen, gehören auch führende Liberale wie der ehemalige FDP-Minister Dirk Niebel und Hermann Otto Solms oder der Unternehmensberater Roland Berger. Unterstützung dafür signalisierten in der Vergangenheit auch führende katholische Amtsträger wie der Fuldaer Bischof Dyba und Kardinal Lehmann, konservative Politiker aus der CDU sowie der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog oder der seit 2013 amtierende Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit Gerd Müller. In bündnisgrünen Kreisen wurde das vikarische Kinderwahlrecht sogar bereits in den 1990er Jahren von Antje Vollmer und Werner Schulz entdeckt. Und schließlich haben sich aus der rechtspopulistischen »Alternative für Deutschland« auch führende Vertreter wie Konrad Adam und Hans-Olaf Henkel für ein solches Wahlrecht ausgesprochen. Die Hoffnungen, die mit einer solchen Reform verbunden werden, sind ausgesprochen vielfältig. Immerhin stiegen dadurch in der Bundesrepublik die Anzahl der Wählerstimmen um 20 Prozent. Durch deren Stimmengewicht würden sich die Inhalte zukünftiger Wahlkämpfe und Regierungspolitiken ändern. Konkret erhoffen sich die Befürworter eines vikarischen Kinderwahlrechts folgende Konsequenzen: Eine stärkere Berücksichtigung der Interessen von Familien mit Kindern (Beispiele: Kindergeld, Elternarbeitszeiten). Eine stärkere Berücksichtigung der Interessen jüngerer Generationen in einer zunehmend von älteren Menschen geprägten Gesellschaft (Beispiele: Bildungsausgaben, Rentenpolitik). Eine stärkere Berücksichtigung von zukunfts- und nachhaltigkeitsorientierten Gesichtspunkten bei politischen Entscheidungen (Beispiele: Schuldenbegrenzung, Umweltpolitik, Klimapolitik). Solche Erwartungen sind auf den zweiten Blick allerdings als naiv zu bezeichnen. Denn die Befürworter kalkulieren in ihre Rechnung nicht mit ein, dass Kinderlose und ältere Wählergruppen auf derartige politische Ausrichtungsversuche reagieren werden und dass sich für deren besondere Belange politische Akteure auf dem Wählermarkt anbieten und entsprechend mobilisieren. Man muss damit rechnen, dass ein von Eltern wahrgenommenes Kinderwahlrecht im Ergebnis das genaue Gegenteil dessen erzeugt, was sich seine Anhänger als politisch wünschenswerte Ziele auf die Fahnen geschrieben haben. Zudem wird ein solches Wahlrecht vermutlich eine mentale Verschiebung auf Seiten der wachsenden Zahl von Kinderlosen und Singles in Gang setzen. Denn diesen Wählergruppen ist nun in einer nur schwerlich zu überbietenden symbolischen und von Stimmengewicht gewichtigen Form vor Augen geführt worden, dass für die Interessen von Familien und Kindern politisch gut gesorgt sei. Das wird sie dazu animieren, dezidiert »Anti-Kind« zu votieren, um sich nicht länger als Opfer einer Familienlobby zu sehen, die mit ihren Steuergeldern für die Kosten von immer neuen Familienlasten aufkommen soll. Kurzum: Man muss damit rechnen, dass ein von Eltern wahrgenommenes Kinderwahlrecht im Ergebnis das genaue Gegenteil dessen erzeugt, was sich seine Anhänger als politisch wünschenswerte Ziele auf die Fahnen geschrieben haben. Die Verlosung der »Kinderstimmen« Vor diesem Hintergrund läßt sich eine andere Variante mit dem Namen »Kinderwahlrecht aleatorisch« (von lateinisch »alea«, das Würfelspiel) ins Spiel bringen. Ihre Grundidee besteht darin, die stellvertretende Wahrnehmung des Stimmrechts nicht den Eltern oder anderen gesetzlichen Vertetern zu überlassen. Stattdessen sollten alle »Kinderstimmen« in einen großen Lostopf gegeben werden und aus diesem heraus unter sämtlichen Wahlberechtigten verlost werden. Wobei natürlich nur solche Wähler eine (und nicht mehr als eine) Kinderstimme per Los »gewinnen« können, die selbst stimmabgabeberechtigt sind. Die Wahrnehmung des Wahlrechts der Kinder wird auf diese Weise bewusst dem Zufallsprinzip überlassen. Eine solche Variante des Kinderwahlrechts leistet in gewisser Weise auch dessen Demokratisierung. Denn es kommt den in den Wahlrechtsdebatten viel zitierten Allgemeinheits- und Gleichheitsansprüchen des demokratischen Wahlrechts insofern weiter entgegen, als es das Recht auf die Wahrnehmung der stellvertretenden Stimmabgabe dem Privileg von Eltern und anderen gesetzlichen Vertretern von Kindern entreißt. Wichtiger aber ist in diesem Zusammenhang ein anderer möglicher Vorteil. Der oben vorgebrachte Einwand gegen alle bisherigen Modelle des Elternwahlrechts lautete, dass nach deren Einführung die Singles und die Kinderlosen vermutlich als Gegenreaktion prononciert »Anti-Familie« und »Anti-Kind« votieren werden. Dieser Einwand verliert dann an Plausibilität, wenn Singles und Kinderlose nicht von vornherein von dem stellvertretenden Votum für Kinder ausgeschlossen bleiben. Man stelle sich deshalb folgendes Gedankenexperiment vor: Auch Singles und Kinderlose erhalten durch den Lotteriecomputer ab und zu die Möglichkeit, eine »Kindersstimme« abzugeben. Der Lotteriecomputer hat ihnen nur zwei basale Informationen über das Kind mitgegeben, das Alter des Kindes und sein Geschlecht (wobei man auf die zuletzt genannte Angabe vielleicht sogar verzichten sollte). Sie haben verschiedene Möglichkeiten, mit dem ihnen übertragenen Stimmrecht umzugehen. Es ist zu erwarten, dass sie sich vor der Stimmabgabe mit den Interessen, Sorgen und Nöten von Kindern der jeweiligen Altersgruppe auseinandersetzen und das Ergebnis ihrer Überlegungen in ihr Votum einfließen lassen. Einen ähnlichen Nachdenkprozess machen möglicherweise Eltern von Kindern durch, denen der Lotteriecomputer die Stimme eines ihnen völlig fremden Kindes übertragen hat. In beiden Fällen könnte die aleatorische Stimmvergabe dafür sorgen, dass die Wähler ihre Entscheidungen hinter einem »Schleier des Nichtwissens« (John Rawls) zu treffen haben, der aber doch so durchsichtig gewebt ist, dass er bei Wählerinnen und Wählern die allgemeinen Interessen von Kindern in eine besondere Aufmerksamkeitsposition rückt. Grafik herunterladen Auch wenn solche positiven Erwartungen an das aleatorische Kinderwahlrecht zunächst einmal nicht mehr als optimistische Spekulationen zu sein scheinen, so käme es auf Versuche in der Praxis an – dafür aber bedürfte es nicht nur des Mutes zum demokratischen Experimentalismus, sondern auch zur kreativen Interpretation der gegenwärtigen verfassungsrechtlichen Grundsätze des bundesdeutschen Wahlrechts.