Das Wirtschaftswunder hatte nicht nur Einfluss auf die Entwicklung der deutschen Zivilgesellschaft der Nachkriegszeit, es formte auch maßgeblich das Erscheinungsbild der deutschen Städte. Auch wenn diese, im Unterschied zu verschiedenen anderen Kulturräumen der Welt, auf eine zum Teil mehr als tausend Jahre lange Geschichte zurückblicken, spielte kaum eine Phase in der deutschen Geschichte – mit Ausnahme der von enormer Verstädterung geprägten Zeit der industriellen Revolution – eine derart wichtige Rolle in der Entwicklung der physischen Gestalt deutscher Städte. Die Art, mit der die Stadtplaner und politischen Entscheidungsträger mit den Folgen dieser Zeit umgehen und umgehen werden müssen, ist für die Effektivität der zukünftigen Stadtlandschaft und die Funktionalität der deutschen Gesellschaft im 21. Jahrhundert von entscheidender Bedeutung. Grafik herunterladen Die fordistische Stadt 1933 wurde die sogenannte Charta von Athen unter der Federführung des Architekten Le Corbusier vorgestellt. Dabei handelt es sich um ein Manifest über die Aufgaben moderner Stadtplanung. Es war eine Antwort auf die schlechten städtischen Lebensbedingungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Folgen der rapiden Verstädterungsprozesse des vorhergehenden Jahrhunderts, wie der Mangel an Wohnraum und die verstärkte Umweltverschmutzung in den teilweise noch mittelalterlich strukturierten Stadtkernen, veranlassten die Stadtplaner und Architekten dazu, Lösungsansätze zu sammeln. Ihre Hauptforderung war vor allem eine strenge räumliche Trennung zwischen Arbeitsplatz und Wohnort, was sie durch den Bau von Großwohnsiedlungen, der vermehrten Anlegung von Freiflächen und die Anpassung der städtischen Verkehrswege hin zur sogenannten autogerechten Stadt erreichen wollten.
Von den späten 50ern bis in die 70er entstanden weitläufige Industrieparks, reine Wohngebiete und Areale, die nur für Einkaufs- und Freizeitzentren angelegt wurden Der Einfluss dieses Paradigmenwechsels wurde in Deutschland erst im Laufe der späten 50er bis in die 70er Jahre deutlich. In diesem Zeitraum erreichte die Industrialisierung in Deutschland dank des wirtschaftlichen Aufschwungs in der Nachkriegszeit ihren Höhepunkt, was den Städten einen beachtlichen finanziellen Spielraum durch Steuereinnahmen einbrachte. Nach dem Prinzip »form follows function« wurde die Stadt streng zweckmäßig in verschiedene funktionale Sektoren eingeteilt. So entstanden – zum Teil auf durch Kriegszerstörung ungenutzten Flächen – weitläufige Industrieparks, reine Wohngebiete und Areale, die nur für Einkaufs- und Freizeitzentren angelegt wurden. Verbunden wurden diese Sektoren durch möglichst weiträumige Verkehrsadern, um den reibungslosen Ablauf automobilen Verkehrs zu garantieren. Das Wirtschaftswunder ermöglichte durch lange Arbeitsverhältnisse und allgemein steigende Löhne zudem eine gewisse Standardisierung der Lebensbedingungen, was die proletarische Lebensweise, die zuvor viele städtische Quartiere geprägt hatte, weitgehend beendete. Der soziale Wohnungsbau der 1960er Jahre realisierte die Vision der Versorgung aller Schichten mit qualitativ angemessenem Wohnraum. Grafik herunterladen Die Mittelschicht wuchs beträchtlich und die zum Teil mehrere Generationen übergreifenden Anstellungsverhältnisse ermöglichten den Familien eine gewisse Planungssicherheit. Sie konnten langfristige Kredite aufnehmen und sich den Wunsch nach einem Eigenheim am Stadtrand verwirklichen. Dadurch wurden enorme Suburbanisierungsprozesse in Gang gesetzt, die noch heute das Stadtbild prägen. Viele deutsche Städte wuchsen durch den enormen Platzbedarf der Einfamilienhäuser mit eigenen Grünflächen rasant. Getragen wurde diese Entwicklung unter anderem vom damaligen restriktiven Frauenbild. Die Mehrheit der verheirateten Frauen war nicht erwerbstätig, kümmerte sich zu Hause um die Familie und die Instandhaltung von Haus und Garten. In den USA finden diese Suburbanisierungsprozesse auch heute noch statt – jedoch in einem komplett anderen Ausmaß, was viele Städte scheinbar uferlos in die Breite wachsen lässt. Diese anscheinend nicht kontrollierbare Ausdehnung des Stadtgebiets wird auch »Urban Sprawl« genannt. In vielen Ländern wurden im vergangenen Jahrhundert zum Ausgleich häufig neue Städte oder Stadtviertel relativ nahe bereits bestehender Städte errichtet. Diese können komplett selbstständig oder sehr stark auf den Stadtkern angewiesen sein. Grafik herunterladen
Das führt durch den Bau dieser Trabanten-, Satelliten- oder Planstädte zur sogenannten Exurbanisierung (auch Periurbanisierung) – der geplanten Verstädterung von zuvor ländlich geprägten Gebieten. Während dies im westlichen Teil Deutschlands weniger häufig stattfand, da hier mehr Wert auf ein eher »natürliches Wachstum« der Städte gelegt wurde, kam es in der DDR aufgrund der autoritäreren Planungspolitik häufiger zum Bau dieser neuen Stadtgebiete. Während in anderen europäischen Ländern wie Großbritannien (»New Towns«) und Frankreich (»Villes Nouvelles«) diese damals als enorm progressiv anmutenden Ideen eher im 19. und frühen 20. Jahrhundert in Mode waren, ist die planmäßige Anlegung neuer Großstädte in anderen Regionen der Erde beliebter denn je. Beispielsweise in Brasilien, Nigeria, Indien und Ägypten wird auf diese Art versucht, viel Wohnraum zu schaffen und so der rapiden Verstädterung standzuhalten. Aufgrund des immensen Einflusses des industriellen Sektors auf das Stadtbild und die urbane Gesellschaft nennt man die dadurch entstandene Form der Städtelandschaft »fordistische Stadt« – bezeichnet nach dem Industriellen Henry Ford.
In den 70ern und 80ern wurde ein Großteil der arbeitsintensiven Industrie und des Bergbausektors in andere Teile der Erde ausgelagert Die Strukturkrise der Städte
Ende der 1970er bis in die 1980er – in der ehemaligen DDR oft erst nach der Wiedervereinigung – wurde ein Großteil der arbeitsintensiven Industrie und des Bergbausektors in andere Teile der Erde ausgelagert. Dadurch verloren die Städte ihren finanziellen Handlungsspielraum und ein Großteil der deutschen Städte geriet in eine Strukturkrise. Die Mehrzahl der Finanzkräftigen lebte und arbeitete zuvor schon meist im Umland und ihre Steuerabgaben standen somit oft den umliegenden Gemeinden zu. Bereits in den Jahren vor der städtischen Krise gab es sozioökonomische Unterschiede zwischen den Bewohnern der Innenstadt und denen des Stadtrands. Während in den innerstädtischen Bereichen meist die Arbeiterschicht wohnte, waren die Hausbesitzer am Stadtrand oft schon im Dienstleistungssektor angestellt, und ihr komplettes Arbeits- und Freizeitleben fand häufig im Umland statt. Als nun im Zuge der Krise viele Arbeitsplätze in der Industrie wegfielen, zeigte sich die soziale Polarisierung zwischen Stadt und Umland umso deutlicher. Die Städte konnten aufgrund ihrer aufkommenden Verschuldung nun weniger intensiv Einfluss nehmen – sowohl auf die Stadtplanung als auch auf die Erhaltung der Bausubstanz. Viele Stadtkerne verkamen aufgrund mangelnder Investitionen (»Urban Decay«). Einem Teil der Projekte des sozialen Wohnungsbaus wurden die Subventionen gekürzt oder die Immobilien wurden an Privatpersonen verkauft. Der Lebensstandard der innerstädtischen Bewohner wuchs nicht im gleichen Maße mit dem der restlichen Bevölkerung oder sank sogar. In vielen Vierteln kam es verstärkt zur sogenannten Ghettoisierung – der räumlichen Fragmentierung (Zergliederung und Trennung) ethnischer oder sozialer Gruppen.
Das komplette Ruhrgebiet hat seit dem Beginn der Strukturkrise ungefähr 11 Prozent seiner Einwohner verloren In einigen Großstädten Deutschlands gingen in dieser Phase sogar die absoluten Einwohnerzahlen zugunsten der Kleinstädte im Umland und der ländlichen Gemeinden zurück. Man spricht in diesen Fälle von Desurbanisierung oder »Counterurbanization« (Entstädterung). So sank beispielsweise die Einwohnerzahl Chemnitz' zwischen 1982 und 1998 um rund 21 Prozent. Das komplette Ruhrgebiet hat seit dem Beginn der Strukturkrise ungefähr 11 Prozent seiner Einwohner verloren. Weltweit gibt es noch extremere Beispiele von wirtschaftlich bedingter Desurbanisierung: So schrumpfte beispielsweise Detroit, das seinen wirtschaftlichen Aufschwung während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fast ausschließlich der Automobilindustrie verdankte, um fast 1,3 Millionen Einwohner auf rund 38 Prozent seiner maximalen Größe. Die Renaissance der Städte und neue Urbanität
Die Visionen der Herausgeber der Charta von Athen, allen voran die funktionale Trennung der Stadtteile, hatten nun ihren Reiz verloren. Sie galten als überholt und erschwerten zudem die weitere Entwicklung der Städte. Die Städte konnten aufgrund der mangelnden Flexibilität und ihrer veralteten stadtplanerischen Paradigmen nicht schnell genug auf den Strukturwandel hin zur Dienstleistungsgesellschaft reagieren. Erst um das Jahr 2000 kam es zu einer Art Renaissance der Städte. Die Einnahmen des boomenden Finanzsektors schufen – zuerst in den deutschen Großstädten wie Frankfurt, München, Köln, Berlin und Hamburg – eine neue Attraktivität des städtischen Lebens. Kennzeichen dieser neuen Urbanität sind kurzfristigere Arbeitsverhältnisse, flexiblere Lebensformen, Gleichstellung der Geschlechter und somit das Ende des Hausfrauenmodells. Diese Entwicklungen verlangen von den Stadtplanern eine schnelle Bereitstellung gewünschter Funktionen, um einen Attraktivitätsverlust des jeweiligen Standorts zu vermeiden. Die digitale Revolution und die rasant wachsende Bedeutung des Dienstleistungssektors machen eine räumliche Trennung von Wohnort und Arbeitsplatz unnötig. Des Weiteren beschleunigen die flexibleren Arbeitsverhältnisse, die erhöhte Mobilität und die plurale Lebensweise den starren Immobilienmarkt enorm. Die erhöhte Nachfrage nach städtischem Wohnraum veranlasst private Investoren dazu, die vom Staat mitfinanzierte Aufwertung der Stadtkerne voranzutreiben. Zudem werden leerstehende Industriegebäude teilweise in hochwertige Wohn- oder Büroflächen umfunktioniert und so wieder ins Stadtbild eingegliedert. Infolgedessen gewinnen die Städte wieder an gesellschaftlicher Bedeutung und die Zahl der Bewohner und der Beschäftigten im Stadtkern nimmt wieder zu, was man als Reurbanisierung bezeichnet.
Der städtische Aufschwung bringt allerdings auch seine Schattenseiten mit sich Gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen Der städtische Aufschwung bringt allerdings auch seine Schattenseiten mit sich. Es kommt vermehrt zu Gentrifizierungsprozessen. Das bedeutet, dass die Attraktivität zentrumsnaher Viertel, die mehrheitlich von sozioökonomisch schwächeren Schichten bewohnt werden, aufgrund der erhöhten Nachfrage steigt und nun zahlungskräftigere Schichten anlockt. Die Bausubstanz wird von privaten Investoren modernisiert und mit der Zeit kann es infolge steigender Mietpreise zur Verdrängung finanzschwächerer Schichten kommen. Wie mit den ehemaligen Bewohnern der gentrifizierten Viertel umgegangen wird und wie ihnen ein adäquater Ersatzwohnraum angeboten werden soll, ist unklar. Die Politik bemüht sich, mit Mitteln wie der Mietpreisbremse Gentrifizierungsprozesse zu verzögern, langfristige Lösungen werden allerdings nicht präsentiert. Zum einen nimmt die Bedeutung des sozialen Wohnungsbaus, der dem Mangel an bezahlbarem Wohnraum entgegenwirken könnte, seit Jahren ab. Zum anderen wird nicht stärker auf die tatsächliche Umsetzung sogenannter Hybrid-Housing-Konzepte bestanden – also den Neubau von Appartementhäusern, die von Angehörigen verschiedener sozialer Schichten bewohnt werden können. Zudem erkennen vor allem ausländische Spekulanten das langfristige Potential deutscher Großstadtimmobilien, die, verglichen mit Immobilien in bedeutenden aufstrebenden Metropolen der Welt, noch eher günstig zu erwerben sind. Das trägt wiederum zum weiteren Verlust staatlichen Einflusses auf den deutschen Wohnungsmarkt bei.
Die Integration von Migranten erfordert jedoch in den Städten ein verstärktes staatliches Eingreifen, um eine weitere drastische soziale und ethnische Fragmentierung zu vermeiden Die Integration von Migranten erfordert jedoch in den Städten ein verstärktes staatliches Eingreifen, um eine weitere drastische soziale und ethnische Fragmentierung zu vermeiden. Während es in anderen Ländern wie den USA, Brasilien oder Südafrika schon seit mehreren Jahrzehnten eine Tendenz dazu gibt, dass sich wohlhabendere Schichten in sogenannten Gated Communities aktiv von ärmeren Schichten abgrenzen, ist diese Entwicklung in Deutschland noch vergleichsweise gering ausgeprägt. Allerdings wird sie angesichts der wachsenden Polarisierung zwischen Arm und Reich langfristig deutlich an Bedeutung gewinnen, was von einer sozialen Fragmentierung verschiedener Schichten zu ihrer räumlichen Ausgrenzung mit all ihren negativen Auswirkungen führt. Die Rolle privater Investoren in der Stadtplanung im Zuge der Neoliberalisierungswelle und der verstärkt marktförmigen Stadtentwicklung ist nicht deutlich genug definiert. Zum einen ist man auf ihre finanzielle Unterstützung bei der Umsetzung städtischer Großprojekte angewiesen, da den Städten das Kapital zur nötigen Aufwertung heruntergekommener Quartiere und ihrer Infrastruktur – insbesondere der Bildungseinrichtungen – fehlt. Zum anderen wirkt der Einfluss privater Investoren oft den Vorstellungen der Stadtplanung des letzten Jahrhunderts entgegen, die das Gemeinwohl aller sozialer Schichten anstrebte. Im Silicon Valley in Kalifornien ersetzen beispielsweise bereits exklusiv agierende private Busanbieter der großen Tech-Firmen den lokalen öffentlichen Personennahverkehr, der so wirtschaftlich weniger tragbar ist und auf Kosten der restlichen Bevölkerung an Qualität verliert. Smart Cities
Private Investoren sind häufig auch die treibenden Kräfte hinter der Umsetzung sogenannter Smart Cities. Darunter versteht man den konzeptuellen Neubau von Städten mit dem Versuch, diese funktional effizienter, grüner und sozialer zu gestalten. Prinzipiell versteckt sich dahinter das – allerdings hier komplett technologisierte – staubig anmutende Konzept der New Towns des 19. und 20. Jahrhunderts. Während sich Stadtplaner in Deutschland aktuell eher zaghaft daran versuchen, einige Komponenten des Smart-City-Konzepts in bereits bestehende Städte einzuführen, werden in Ländern wie Südkorea, China und Saudi-Arabien komplett neue Städte errichtet. Sie treiben die vollständige Automatisierung ganzer Metropolen voran und befördern die Städtelandschaft mit ihren Bewohnern ins Zeitalter der Informationsverarbeitung. Dieser Beitrag erschien in der sechsten Ausgabe von KATAPULT. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr. [1] Leitprinzip u.a. der Architektur: Im Vordergrund steht die Funktionalität, die Gestaltung ergibt sich aus der Funktion.
[2] Bekannte Beispiele für Trabanten-, Satelliten- oder Planstädte in Westdeutschland: Neuperlach (München), Gropiusstadt (Berlin), Mümmelmannsberg (Hamburg) und Sennestadt (Bielefeld).
[3] Bekannte Beispiele für Trabanten-, Satelliten- oder Planstädte in der DDR: Eisenhüttenstadt, Grünau bei Leipzig, Halle-Neustadt und Berlin-Hellersdorf.
[4] Henry Ford, der Gründer des gleichnamigen Automobilkonzerns, führte als Erster die industrielle Arbeitsteilung, Fließbandproduktion und Massenproduktion in die wirtschaftlichen Abläufe seines Unternehmens ein.
[5] Vgl. Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen, Staatliche Zentralverwaltung für Statistik.
[6] Vgl. o.A.: Metropole Ruhr – das neue Ruhrgebiet. Differenzierte Bevölkerungsstruktur, auf: metropoleruhr.de.
[7] In den USA hat sich für die kurzweiligen Anstellungsverhältnisse und häufigen Jobwechsel der Begriff der »Gig Economy« durchgesetzt.
[8] Während früher Wohnungen oder Häuser meist von einem Paar oder einer Familie bewohnt wurden, geht heute der Trend verstärkt zu Ein- oder Zweipersonenhaushalten, die aktuell rund 80% der städtischen Wohnungen in Deutschland ausmachen.
[9] Unter »Gated Communities« versteht man geschlossene Wohnkomplexe oder sogar ganze Siedlungen, deren Betreten der Öffentlichkeit untersagt ist.
[10] Bekannte Beispiele für »Smart Cities«: King Abdullah Economic City in Saudi-Arabien, Pudong New Area in China und Sengo International Business District in Südkorea.