Sie ist wieder da – die Angst vor einem Atomkrieg. Die Weltuntergangsuhr[1] (»Doomsday Clock«) des »Bulletin of the Atomic Scientists«[2] beziffert seit 1947 die Wahrscheinlichkeit eines atomaren Konflikts. Derzeit steht sie bei zweieinhalb Minuten vor zwölf. Die Menschheit war dem selbstverschuldeten Untergang nur einmal näher – 1953, als sowohl die USA als auch die Sowjetunion ihre ersten Wasserstoffbomben erfolgreich testeten, so die Einschätzung der Experten. Anders als die Generationen, die während des Kalten Krieges in permanenter Sorge vor solch einem Schreckensszenario aufgewachsen sind, nahm die Generation der Neunziger diese Bedrohung in ihrem Leben bislang kaum wahr: Russland und China konzentrierten sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts vor allem auf innenpolitische Stabilität und wirtschaftliches Wachstum. Und das Vereinigte Königreich und Frankreich florierten im Schatten der alleinigen wirtschaftlichen und militärischen Weltmacht, der Vereinigten Staaten von Amerika. Ein atomarer Konflikt zwischen diesen fünf offiziellen Atommächten schien unwahrscheinlich. Grafik herunterladen Und dennoch war die Gefahr weder in den Neunzigern noch im neuen Millennium keineswegs gebannt – zu groß ist das permanente Risiko einer Fehleinschätzung oder eines Unfalls. 32 sogenannte broken arrows sind bis heute bekannt.[3] Das sind Unfälle, die zu einer unbeabsichtigten Detonation oder dem Verlust einer Atomwaffe führen. Die Dunkelziffer liegt weit höher. Dennoch bedurfte es der erneuten verbalen Eskalation des Nordkorea-Konflikts in den letzten Wochen und Monaten, damit das Thema wieder breitenwirksam in den Medien diskutiert wurde. Verantwortlich dafür sind die Staatspräsidenten Nordkoreas und der USA. Zwei Persönlichkeiten, die in dringenden Fällen praktisch allein entscheiden können, ob Atomwaffen eingesetzt werden. Sie sind kaum durch institutionelle Kontrollen oder Hürden eingeschränkt. Das nordkoreanische Regime ist ohnehin auf die Entscheidungen Kims ausgerichtet. Aber auch Trump wird rund um die Uhr von einem Mitarbeiter mit einem etwa 20 Kilogramm schweren Koffer, über den er den Einsatz von Atomwaffen steuern kann (liebevoll »nuclear football« genannt), begleitet. Grafik herunterladen Erst Euphorie, dann Skepsis Wenn sich der nordkoreanische und der US-Präsident dieser Tage mit immer skurrileren Drohgebärden übertrumpfen und dabei den Einsatz von Kernwaffen offen als Option auf den Tisch legen, so ist das auch ein Resultat zahlreicher Fehlschläge der Rüstungskontrolle in den letzten Jahrzehnten. Infolge fortschreitender Verbreitung von Wissen und Technologie zum Bau von Atomwaffen, hatten sich Mitte der Sechzigerjahre die offiziellen Atommächte entschieden, den Atomwaffensperrvertrag (»Non-Proliferation Treaty«, kurz NPT) ins Leben zu rufen. Den Status einer offiziellen Atommacht erhielten die USA, die Sowjetunion, Frankreich, das Vereinigte Königreich und China, da sie bis zum 1. Januar 1967 bereits erfolgreich Atombomben getestet hatten. Im Vertrag sollte genau diese Weiterverbreitung durch ein vertragliches Erwerbs- sowie Entwicklungsverbot von Atomwaffen anderen Staaten untersagt werden. Im Gegenzug verpflichteten sich die offiziellen Atommächte, die übrigen Staaten bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie zu unterstützen und Verhandlungen »in redlicher Absicht« hin zu einem Vertrag über die komplette nukleare Abrüstung zu führen. Tatsächlich traten dem Abkommen über die Jahre 191 UN-Mitgliedstaaten und damit die überwältigende Mehrheit der dort anerkannten Länder bei. Die anfängliche Euphorie über die Wirksamkeit des Vertrages wich aber bald legitimer Skepsis. Die Atomwaffentests Indiens (1974, 1998) und Pakistans (1998) offenbarten ein erstes Manko des Vertrags: die Freiwilligkeit des Beitritts. Die im Besitz von Atomwaffen befindlichen Staaten Indien, Pakistan und Israel und auch der atomwaffenfreie Südsudan traten dem Vertrag gar nicht erst bei. Nordkorea andererseits, »dessen Nuklearwaffenprogramm der Abschreckung äußerer Bedrohungen, der Erpressung von Zugeständnissen und Hilfeleistungen externer Akteure sowie der Konsolidierung des Regimes dient«[4], machte sich ein zweites, oft kritisiertes Defizit des Vertrages zunutze. Es kündigte 2003 unter Einhaltung der dreimonatigen Kündigungsfrist seine Mitgliedschaft zum zweiten Mal nach 1993[5] einfach auf. Seine erste Kündigung hatte es wieder rückgängig gemacht, wohl auch, um technisches Know-how für die zivile Nutzung der Kernenergie zu erwerben. Diese Expertise befeuerte später zweifelsohne die Entwicklung von Atomwaffen. Grafik herunterladen Die Aneignung von Nuklearwaffen ist für Nordkorea sowohl identitätsstiftend als auch überlebenswichtig. Es sah am Beispiel des Irak und Libyens, was Staaten droht, die ihr Atomprogramm auf internationalen Druck stoppten. »Die Entwicklung eines Kernwaffenarsenals wird als Manifestation der Juche-Ideologie [dem Streben nach völliger Autarkie in allen Lebensbereichen, Anm. F.S.] stilisiert, die seit Jahrzehnten den ideologischen Unterbau des Kim-Regimes bildet.«[6] Die »redliche Absicht« hin zu einer totalen nuklearen Abrüstung, wie im Vertrag seitens der Atommächte versprochen, hält ebenfalls keiner vernünftigen Analyse stand. 1968 erreichten die weltweiten Arsenale ihr Allzeithoch mit insgesamt rund 65.000 Sprengköpfen.[7] Seither regelten vor allem bilaterale Verträge zwischen Russland und den USA eine Reduktion der Stückzahlen und das Verbot bestimmter Waffensysteme. Trotz der deutlichen Verminderung auf insgesamt rund 15.000 Stück entspricht dies nach wie vor einer mehrfachen »Overkill«-Kapazität. Dahinter steckt Kalkül. Russland und die USA möchten sich die Logik der wechselseitig zugesicherten Zerstörung (»mutual assured destruction«, kurz MAD) erhalten. Das soll den potentiellen Angreifer gar nicht erst in Versuchung kommen lassen, das Wagnis eines atomaren Angriffs einzugehen. Tragische Konsequenz jener ausufernden MAD-Logik ist ein Vorrat an Nuklearwaffen, der in der Lage ist, den kompletten Planeten auszulöschen. Dennoch investieren derzeit alle Atommächte hohe Summen in modernere und langlebigere Systeme. Die USA sollen Berechnungen des James Martin Center for Nonproliferation Studies zufolge in den nächsten 30 Jahren rund eine Billion US-Dollar in die Erhaltung und Modernisierung ihrer nuklearen Triade investieren.[8] Eine nukleare Triade erlaubt es einem Staat, mittels Kampfjets, U-Booten und Raketen Atomwaffen aus der Luft, dem Wasser und vom Boden aus abzufeuern. Da nie alle drei Kategorien gleichzeitig ausgeschaltet werden können, bleibt er damit jederzeit angriffsfähig. Grafik herunterladen Chemie- und Biowaffen sind verboten, ein Atomwaffenverbot liegt in weiter Ferne Diesen Negativtrends zum Trotz gibt es auch Entwicklungen, die die Hoffnung auf eine Welt ohne Kernwaffen nähren. Im Abschlussdokument der NPT-Überprüfungskonferenz von 2010 wurde die »tiefe Besorgnis über die katastrophalen humanitären Auswirkungen jedes Atomwaffeneinsatzes«[9] betont. Die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Vereinigung appellierte daraufhin an die internationale Staatengemeinschaft, ein rechtlich bindendes Verbot von Nuklearwaffen zu verhandeln, ähnlich wie es dies bereits für biologische[10] und chemische[11] Waffen gibt. Die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN), ein globales Nichtregierungsbündnis von 460 Organisationen aus mehr als 100 Staaten, unterstützt jene Bestrebungen seither intensiv und wurde 2017 dafür sogar mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. ICAN war auch an der Organisation von drei internationalen humanitären und zivilgesellschaftlichen Konferenzen in Norwegen, Mexiko und Österreich beteiligt. Zusammen warben interessierte Nationen und die Zivilgesellschaft seither für jenes Verbot. Die UNO-Generalversammlung erteilte im Dezember 2016 ein Verhandlungsmandat für einen solchen Atomwaffenverbotsvertrag. Bereits wenige Monate später, am 7. Juli 2017, stimmten ganze 122 Staaten für einen Vertrag, der Entwicklung, Produktion, Test, Erwerb, Lagerung, Transport, Stationierung und Einsatz von Atomwaffen sowie die bloße Androhung dessen verbietet. Seit September 2017 steht es allen anderen Staaten frei, den Vertrag ebenso zu unterzeichnen. Doch die Atommächte und NATO-Mitglieder zeigen kein Interesse an einem solchen Vertrag. Sie verhindern zwar die Schritte der Atomwaffengegner nicht aktiv, unterstützen sie allerdings auch in keiner Weise. Das große Aufbegehren gegen diese Entwicklung seitens der Zivilgesellschaft blieb bislang aus. Jeremy Corbyn, Parteichef der sozialdemokratischen Labour-Partei im Vereinigten Königreich, gratulierte unlängst jedoch ICAN zum Erhalt des Friedensnobelpreises und könnte sich eine Unterzeichnung des Vertrages durchaus vorstellen, sollte er seine Partei in eine zukünftige Regierung führen. Aktuelle Ausgabe Dieser Beitrag erschien im Dezember 2017 in der achten Ausgabe von KATAPULT. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr. KATAPULT abonnieren