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Wissenschaft

Wo bleibt der Geist?

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Mit Beginn des 21. Jahrhunderts geriet die Willensfreiheit ins Visier einiger populärer Hirnforscher. Unverblümt behaupten etwa Gerhard Roth oder Wolf Singer, dass die Willensfreiheit eine Illusion sei. Sie habe als Konzept schlichtweg ausgedient und werde durch eine realitätsnähere, von der Hirnforschung vorgegebene Sichtweise auf den Menschen ersetzt. Entsprechend erklärt das 2004 veröffentlichte Manifest von elf führenden Hirnforschern, dass uns, »was unser Bild von uns selbst betrifft, [...] in sehr absehbarer Zeit beträchtliche Erschütterungen ins Haus« stünden.

Die Philosophie geht diesen Weg bisher relativ gelassen mit. In seinem Nummer-1-Bestseller »Illusion Freiheit« von 2002 plädiert Michael Pauen für eine schwache Variante der Willensfreiheit, nach der wir uns zwar nicht frei für etwas entscheiden würden, uns aber immerhin frei fühlen könnten, wenn uns keine äußeren Zwänge an der Umsetzung unseres (in sich unfreien) Willens hindern. Der Verkaufserfolg wie auch die positive Resonanz dieses Buches innerhalb seines Faches lassen erahnen, dass Pauen keine Außenseiterposition vertritt.

So behauptet Michael Esfeld in einer Einführung in die Philosophie des Geistes von 2005, dass die »Standardposition [...] seit rund vierzig Jahren die funktionalistische Version des Physikalismus« sei. Mit Physikalismus ist eine naturwissenschaftlich geprägte Sichtweise bezeichnet, die nur die messbaren Gehirnvorgänge gelten lässt, dem Geist aber keine eigenständige Rolle zuweist. Dass Esfeld diese als »funktionalistisch« präzisiert, verweist einmal mehr auf die funktionale Herangehensweise der Naturwissenschaften.

Es gibt keine Mutterliebe

Pech ist nur, dass sich der Mensch gerade in der Unterscheidung zur reinen Funktionalität definiert. Die Pointe der Menschenwürde ist, dass der Mensch sie unabhängig von und übergeordnet zu seinem funktionalen Wert besitzt. Bisher glauben wir, dass der Mensch mehr ist als die Funktion, die er etwa in der Gesellschaft besitzt. Auch an anderen Stellen sperren wir uns gegen funktionale Engführungen: Wenn jemand nur aus Berechnung handelt, sprechen wir ihm gerade kein ethisches Verhalten zu, schon gar nicht würden wir sein Verhalten als Liebe bezeichnen.

Die rein funktionale Bestimmung des Menschen hat daher in der Tat Auswirkungen auf unser Selbstverständnis. Sollte sich der Mensch die Willensfreiheit absprechen, müssten zahlreiche gesellschaftliche Konzepte auf den Prüfstand, ganz offensichtlich etwa das von Schuld und Verantwortung, ja von Ethik ganz allgemein. Das Problem rührt aber noch tiefer. So könnte, argumentiert der amerikanische Philosoph Daniel Dennett, auch das Konzept von Bedeutung nicht aufrechterhalten werden. Wenn sich ein Kleinkind zu seiner Mutter hinwendet, dann, so behauptet er, tue es das nicht, weil ihm die Mutter etwas bedeute, sondern rein funktional, weil es Hunger habe. Bernulf Kanitscheider überträgt diese Denkweise auf die menschliche Sinnsuche. Wenn es grundsätzlich so etwas wie Bedeutung nicht gibt, dann auch keinen religiös verstandenen Sinn. Die Sinnsuche sei ein hohles Unterfangen, erklärt er in seinem 2008 publizierten Buch »Entzauberte Welt«.

Die meisten der genannten Bücher erreichten hohe Auflagen. Die Plausibilität ihres funktionalen Ansatzes verdankt sich dem Erfolg der modernen naturwissenschaftlichen Methodik, an deren Anfang der Astronom Galileo Galilei steht. Seine zentrale methodische Neuerung bestand in der konsequenten Verbindung von Mathematik mit empirischer Forschung. Die Mathematik besaß zwar schon lange vor Galilei einen hohen Stellenwert, da sie die besondere Geistfähigkeit des Menschen, nämlich sein Abstraktionsvermögen, versinnbildlichte. Auch die Naturbeobachtung wurde schon vorher betrieben, aber sie galt als minderwertig, da sie nur Auskünfte über die wechselhafte Gestalt der Welt und nur indirekt über ihre ewigen letzten Prinzipien und das wahre und unveränderliche Wesen der Dinge gebe.

Die Teilung des Menschen

An dieser Stelle setzte nun das Umdenken ein. Dieses lässt sich nachvollziehen, indem die Philosophie von René Descartes herangezogen wird. Auch er betonte wie sein Zeitgenosse Galilei den mathematischen Zugang an die Welt. Dass die Mathematik eine genuine Fähigkeit des Menschen ist, schien ihm auf einen radikalen Unterschied zwischen dem Menschen und dem Rest der Natur hinzuweisen. Entsprechend entwickelte Descartes ein konsequent dualistisches Weltmodell. Die Welt wird darin zweigeteilt in geistbeseelte Wesen (den Menschen) und den geistlosen materiellen Rest. Der Mensch wiederum wird zweigeteilt in seinen (materiellen) Körper und seinen Geist.

Descartes' Dualismus ermöglichte eine Aufgabenteilung zwischen den Wissenschaftsdisziplinen, die sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wie eine Art Burgfrieden hielt. Die Naturwissenschaften auf der einen Seite arbeiteten am Körper des Menschen und dem geistlosen Rest der Welt, also an allem, was einer empirischen Betrachtung zugänglich ist. Der Körper des Menschen wurde so untersucht, als ob er ohne Einwirken eines Geistes funktionieren würde. Das »als ob« ist wichtig, es benennt eine methodische Selbstbeschränkung, der sich die Naturwissenschaften unterwarfen. Philosophie und Theologie auf der anderen Seite bemühten sich um das, was die Empirie übersteigt: den menschlichen Geist, Gott und das Jenseits.

Entsprechend lag irgendwann die Frage in der Luft, ob die Geisteswissenschaften überhaupt einen Nutzen haben.

Auf naturwissenschaftlicher Seite wird der Körper seitdem als eine Art Maschine erfasst. Wenn William Harvey (1578-1657) das Herz als Pumpe beschreibt, dann kann er das mystisch aufgeladene Organ entzaubern, indem er es funktional bestimmt. Diese funktionale Sichtweise zeichnet die Naturwissenschaften insgesamt aus, sie führte zu konkreten Erfindungen und so zu Waschmaschinen, Organtransplantationen und Marsexpeditionen. Die andere Seite konnte keine ähnlich nützlichen Erkenntnisse vorweisen. Entsprechend lag irgendwann die Frage in der Luft, ob die Geisteswissenschaften überhaupt einen Nutzen haben.

Mit der Zunahme der Erklärungskraft wurde auch der Arbeits- und Zuständigkeitsbereich der Naturwissenschaften immer größer. Können die Naturwissenschaften bald alles erklären, ist die Frage, die sich aufnötigt. Kann es sein, dass das »als ob« keine Einschränkung, sondern vielmehr die einzige Erfolg versprechende Vorgehensweise darstellt? Wer diese Frage positiv beantwortet, landet bei der eingangs dargestellten Position des Physikalismus, die alle geistigen Phänomene auf ihre körperliche Basis reduziert und damit den Menschen, seine Gefühle und eben auch seine Willensfreiheit als Nebenerscheinungen neuronaler Tätigkeit ohne eigenen Wert darstellt. Der Mensch wird ohne Geist erklärt.

Dass sich dieses funktionale Denken in der Gesellschaft insgesamt breit macht, lässt sich anhand einiger Auswirkungen erahnen: Die Klagen über eine Ökonomisierung des Gesundheitssystems, in dem funktional Krankheiten beseitigt werden, nehmen etwa beständig zu. Im Bildungssystem ließe sich der vorherrschende Leistungsgedanke nennen, zumal wenn er funktional auf eine Berufskarriere ausgerichtet ist. Dass in der freien Wirtschaft nicht immer der Mensch mit seinen Bedürfnissen im Vordergrund steht, sondern eher die Gewinnmaximierung, steht wohl nicht in Frage.

Sicherlich können diese gesellschaftlichen Entwicklungen nicht monokausal auf die Ausbreitung physikalistischen Denkens geschoben werden, aber dass ein (wechselseitiger) Zusammenhang zwischen der physikalistischen Weltdeutung und einer funktionalen Ausrichtung des individuellen Handelns bzw. gesellschaftlicher Strukturen besteht, liegt doch nahe. In einer Langzeitstudie beschrieb der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer einen fortschreitenden Prozess der Ökonomisierung unserer Gesellschaft, der mit seiner Ausrichtung an Effizienz und Konkurrenz die Lebenseinstellung und die Wertegrundlage verändere: »Instrumentelles Verhalten wird damit zur Normalität des Umgangs«, stellte er fest und behauptete damit nichts weniger, als dass die funktionale Denkweise bereits den Alltag präge.

Der Wunsch, die Unbeweisbarkeit zu beweisen

Wer gegen das funktionale Denken argumentieren möchte, wird den naturwissenschaftlich-objektiven Zugang um eine subjektive Komponente ergänzen müssen: Der Mensch ist dann nicht mehr nur als funktionale Maschine zu verstehen, sondern auch und vorrangig als Subjekt, das eben doch einen eigenen Willen, eigene Gefühle und eine Würde besitzt, die über den funktionalen Wert hinausgeht. Er kommt damit aber in Konflikt mit den Naturwissenschaften: Wenn das Gehirn alleine durch seine synaptische Aktivität erklärt werden kann, steht die Behauptung auf schwachen Füßen, dass es eine kausal wirkungsvolle Willensfreiheit gebe.

Dass die Naturwissenschaften zunehmend an Erklärungskraft gewinnen, ohne auf ein Geistprinzip zu stoßen, stellt die argumentative Stärke und Plausibilität des Physikalismus dar. Allerdings darf bezweifelt werden, dass der Mensch ohne eine subjektive Komponente verstehbar ist. Der Mensch will etwas (erfährt also seine Willensfreiheit), kennt die Unterscheidung zwischen Gut und Böse (die es in einer funktionalen Beschreibung der Welt nicht gibt), hat ein subjektiv-ästhetisches Empfinden, kann lieben und hat einen Sinn für Religiosität.

Daher scheint es doch einen Geist zu geben, der nicht nur eine wirkungslose Illusion darstellt, sondern ein zentrales Element des Menschen. Nach bisherigem Stand der Diskussion bleibt daher das Votum für ein komplementäres Die Debatte scheint in die nächste Runde zu gehen.

Fußnoten

  1. Gehirn & Geist 6/2004, 36.
  2. Pauen, Michael: Illusion Freiheit. Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung, Frankfurt 2004.
  3. Esfeld, Michael: Philosophie des Geistes, Bern 2005, 187.
  4. Dennett, Daniel: Kinds of Minds, New York 1996.
  5. Kanitscheider, Bernulf: Entzauberte Welt: Über den Sinn des Lebens in uns selbst. Eine Streitschrift, Stuttgart 2008.
  6. Auf eine Ursache beschränkt.
  7. Heitmeyer, Wilhelm: Die verstörte Gesellschaft. In weiten Teilen der Bevölkerung wächst die Orientierungslosigkeit - und mit ihr der Druck auf die Minderheiten, in: Die Zeit 51/2005, 24.
  8. Tetens, Holm: Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie, Stuttgart 2015.

Autor:innen

Forschungsschwerpunkte
Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie
Postmoderne Philosophie/Neopragmatismus
Jenseitskonzepte

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