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US-Recht

Untersuchungshaft ist eine Geldfrage

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Ein Mensch gilt so lange als unschuldig, bis seine Schuld vor Gericht bewiesen ist. Wer in den USA verhaftet wird, kommt bis zur Gerichtsverhandlung direkt in Untersuchungshaft, außer ein Richter gewährt dem Angeklagten, gegen Auflagen freizukommen. In den meisten Fällen muss der Angeklagte dafür eine Kaution beim Gericht hinterlegen. Die Kaution ist ein bestimmter Geldbetrag, den der zuständige Richter festlegt. Bezahlt der Angeklagte den Geldbetrag oder zumindest einen Teil davon sofort, kann er das Gefängnis bis zum Beginn des Prozesses verlassen. Erscheint er nicht zur Verhandlung, geht das Geld an den Staat. Wer nicht zahlen kann, bleibt in Haft - und wartet auf das Urteil.

Kaution darf “nicht übermäßig” sein

In der US-amerikanischen Verfassung heißt es lediglich, dass die Kaution “nicht übermäßig” sein soll. In einigen Staaten gibt es - teilweise auch nur regional - bestimmte Vorgaben, wie hoch die Kaution sein darf. Die Entscheidung über die Höhe der Kaution treffen aber letztendlich die zuständigen Richterinnen und Richtern – und diese entscheiden von Fall zu Fall. Weil es wenige Gerichte und viele Anhörungen gibt, haben sie dafür oft nur wenige Minuten Zeit. Sie gehen dabei in mehreren Schritten vor, wie Sascha Lohmann, Politikwissenschaftler der Stiftung Wissenschaft und Politik, gegenüber KATAPULT erklärt: Zuerst wird die allgemeine Glaubwürdigkeit des Inhaftierten beurteilt. Er muss glaubhaft versichern, zum Gerichtstermin zu erscheinen.

Dann wägt der Richter ab, ob der Inhaftierte Gründe zur Flucht haben könnte oder ein Risiko für andere Menschen darstellt. Hier bezieht das Gericht vor allem auch das Ausmaß der Tat in die Entscheidung ein. Aber auch das Persönlichkeitsprofil und der bisherige Werdegang des Angeklagten werden berücksichtigt. Auf Grundlage dieser Überlegungen bestimmen die Richter, ob der Angeklagte bis zur Verhandlung in Haft bleibt. Erst dann geht es ums Geld. Die Höhe wird sowohl nach der Schwere der Tat als auch nach der persönlichen und finanziellen Situation des Angeklagten bemessen. Entscheidend ist nicht, was er angesichts seines Vermögens zahlen kann, sondern welche Summe sicherstellt, dass er zum Gerichtstermin erscheint. Um das einzuschätzen, schauen sich die Richter beispielsweise an, ob der Inhaftierte ein Haus im Ausland besitzt, in das er flüchten könnte, um sich dem Gericht zu entziehen. Eine Studie des Nachrichtenportals FiveThirtyEight für den Bundesstaat New York zeigt, dass einige Richter in nur 30 Prozent der Fälle eine Freilassung auf Kaution gewähren, andere in bis zu 69 Prozent.

Zahl der Inhaftierten steigt

Im Jahr 2018 warteten 66 Prozent aller in den USA Inhaftierten noch auf ihr Gerichtsurteil. In absoluten Zahlen sind das 490.000 Menschen - so viele wie nirgends sonst auf der Welt. Eine mögliche Erklärung: In den letzten 30 Jahren forderten immer mehr US-Gerichte eine Kaution, die viele Angeklagte nicht bezahlen konnten. Für vergleichsweise harmlose Vergehen werden oft schon 500 bis 1.000 Dollar verlangt.

Freiheit bekommt durch das Kautionssystem “ein Preisschild” verpasst, wie es in einer Petition von Global Citizen heißt. Die Organisation setzt sich weltweit gegen Armut ein und fordert, das Kautionssystem abzuschaffen. Sie beklagt vor allem, dass unter den rund 500.000 Menschen, die in den USA in U-Haft sitzen, besonders viele aus sozial schwachen Verhältnissen kommen. Sie sind gefährdet, während der Haftzeit ihren Arbeitsplatz und ihre Wohnungen zu verlieren und so noch weiter in die Armut zu rutschen.

Um die Kaution überhaupt bezahlen zu können, leihen sich viele Angeklagte das Geld von einem Kautionsbüro. Schätzungsweise 15.000 solcher Unternehmen gibt es laut Schätzungen in den USA. Und das Geschäft boomt. Zwei Milliarden Dollar verdient die Branche jährlich. Die zu entrichtende Gebühr beträgt 10 bis 15 Prozent der Kautionssumme. Werden die Angeklagten später freigesprochen, wird ihnen die gezahlte Gebühr nicht zurückerstattet. Erscheinen sie nicht zum Gerichtstermin, schicken die Kautionsbüros Kopfgeldjäger los, um das Geld einzutreiben.

Das System kostet auch den Staat

Das kostet den Staat viel Geld. Eine Studie der Denkfabrik Hamilton Projects, die sich mit wirtschaftspolitischen Themen beschäftigt, hat ausgerechnet, wie viel. Pro Jahr fallen für eine inhaftierte Person Kosten von rund 28.400 Dollar an. Weil Menschen in Haft ihre Jobs nicht mehr ausüben können, entsteht zusätzlich ein Produktionsausfall. Den Unternehmen, in denen sie angestellt sind, fehlt eine Arbeitskraft. Das wirkt sich auf die Gesamtwirtschaft eines Landes aus. Alle Faktoren einbezogen, zahlt der amerikanische Staat in einem Jahr über 15 Milliarden Dollar für die Menschen, die die geforderte Kaution nicht zahlen können. Das wird von jenen Kautionen, die bei Nichterscheinen vom Staat einbehalten werden, nicht ausgeglichen.

Grundsätzlich steht es den US-Bundesstaaten frei, ihr Kautionssystem gestalten. Im Staat New York wurden Kautionen für geringfügige und nicht-gewaltsame Verbrechen abgeschafft. In Washington, D.C. gibt es das Kautionssystem gar nicht mehr. 94 Prozent aller Festgenommenen werden dort seitdem wieder freigelassen, ohne eine Kaution zahlen zu müssen. 88 Prozent von ihnen erscheinen zum Gerichtstermin. Im Vergleich zu anderen Bundesstaaten ist dieser Wert überdurchschnittlich hoch.

Als erster US-Bundesstaat hat Kalifornien 2018 ein Gesetz zur Abschaffung des Kautionssystems auf den Weg gebracht. Die Begründung: Es ist sozial ungerecht. Ob es in Kraft tritt, wird im November dieses Jahres entschieden.

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Fußnoten

  1. Constitution Annotated: Amdt8.1.1.2.1. Excessive Bail Prohibition, Current Doctrine, auf: constitution.congress.gov (ohne Datum).
  2. Wykstra, Stephanie: Bail reform, which could save millions of unconvicted people from jail, explained, auf: vox.com (17.10.2018).
  3. Telefongespräch mit Sascha Lohmann am 12.10.2020.
  4. Barry-Jester, Anna Maria: You’ve Been Arrested. Will You Get Bail? Can You Pay It? It May All Depend on Your Judge, auf: fivethirtyeight.com (19.6.2018).
  5. U.S. Department of Justice: Jail Inmates in 2018, auf: bjs.gov (2020).
  6. Denkler, Thorsten: Freigekauft, auf: sueddeutsche.de (6.1.2020).
  7. GlobalCitzen: US Governors decriminalize Poverty, auf: globalcitizen.org (ohne Datum).
  8. Juraforum: Kaution und Kautionssystem in den USA – Definition und Erklärung, auf: juraforum.de (ohne Datum).
  9. Wetzel, Hubert: Das Ende der Kopfgeldjagd, auf: sueddeutsche.de (31.8.2018).
  10. Liu, Patrick; Nunn, Ryan; Shambaugh, Jay: The Economics of Bail and Pretrial Detention, auf: hamiltonproject.org (12.2018).
  11. Denkler, Thorsten: Freigekauft, auf: sueddeutsche.de (6.1.2020).
  12. Shouse California Law Group (Hg.): How to Bail Someone Out of Jail in California, auf: shouselaw.com (28.8.2020).

Autor:innen

Ehemalige Redakteurin bei KATAPULT. Hat Journalismus und Kommunikation in Wien und Amsterdam studiert. Themenschwerpunkte sind Gesellschaftspolitik und feministische Themen. Macht auch Podcasts.

Ehemalige Redakteurin bei KATAPULT. Sie ist Historikerin und schreibt vor allem über soziale und gesellschaftspolitische Themen.

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