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Editorial KNICKER N° 4

Stell dir vor, es ist Krieg und Deutschland will hin

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Liegengeblieben. Mal wieder. Die Kanzlerin steckt fest, der Regierungsflieger »Konrad Adenauer« streikt. Zum G20-Gipfel in Buenos Aires muss Angela Merkel deshalb mit dem Linienflug anreisen. Diese Episode aus dem Vorjahr ist dank Twitter gut dokumentiert: Die Kanzlerin isst Joghurt, liest ein Buch, zwischendurch hält sie ein Nickerchen. Das macht nahbar und bringt international Sympathiewerte, intern aber wächst die Kritik.

Denn die Pannenliste der Regierungsflieger ist lang: Bundespräsident Steinmeier blieb im November ungeplant in Südafrika hängen, Finanzminister Scholz musste einen Monat zuvor vom Internationalen Währungsfonds mit dem Linienflug zurückreisen. Im Januar 2019 fiel der Namibia-Aufenthalt von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen aus. Im März strandete Außenminister Heiko Maas in Mali, einen Monat später verpasste er eine UN-Veranstaltung.

Auch die Ausfallliste der Bundeswehr ist beträchtlich. Zuletzt war im Mai wiederholt ein U-Boot vor Norwegen auf Grund gelaufen. Ist ein Land, in dem Regierungsflieger und Bundeswehr regelmäßig für Pannennachrichten sorgen, fit für mehr internationale Verantwortung? So diskutieren zahlreiche Kommentatoren in Medien und Expertenkreisen. Doch diese Frage geht am eigentlichen Streitpunkt vorbei. Der heißt nämlich: Sollte die Bundesrepublik eine solche Rolle überhaupt anstreben?

Seit einiger Zeit fordern verschiedene Politiker, Journalisten und Politologen, Deutschland müsse international mehr Verantwortung übernehmen. Sie kritisieren, die Bundesrepublik verlasse sich auf den Schutz von USA und NATO, anstatt selbst für nationale Sicherheit zu sorgen. Auch US-Präsident Trump mahnt Deutschland, mehr in das eigene Militär zu investieren.

Wer mehr Verantwortung fordert, muss jedoch auch erklären, worin diese bestehen soll. Wie heikel das werden kann, zeigen jüngere Streitfälle – etwa die US-geführten Militärschläge in Syrien im letzten Jahr. Trump reagierte auf einen mutmaßlichen Giftgaseinsatz des Assad-Regimes, Großbritannien und Frankreich beteiligten sich. Deutsche Politiker zeigten sich ebenfalls offen für eine Mitwirkung an den Vergeltungsaktionen, die allerdings ausblieb.

Gegner kritisieren, die Bombardierung sei völkerrechtswidrig gewesen. Das stimmt, urteilte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages. Für die Befürworter spielt das jedoch keine Rolle, denn im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen blockieren sich USA und Russland zunehmend gegenseitig.

Mangels Einigung müsse man Assad auch ohne UN-Resolution zum Handeln zwingen. Machtpolitik statt Völkerrecht.

Besonders umstritten: der Einmarsch der USA unter George W. Bush in den Irak 2003. »Krieg gegen den Terror« nannte er das. Ein UN-Mandat gab es dafür nicht. Die Beweise zu Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen waren gefälscht. Noch-nicht-Kanzlerin Merkel befürwortete damals den Militäreinsatz und schloss auch die Beteiligung deutscher Soldaten nicht aus. Allerdings hieß der Regierungschef Gerhard Schröder. Keine deutschen Truppen, entschied er.

Wer international eine aktivere Rolle anstrebt, muss sich genau überlegen, wie zu unterscheiden ist: zwischen wahr und falsch; zwischen Angemessenheit und fahrlässiger »Allzuständigkeit«. Doch auch, wer dagegen ist, muss sich fragen: Wo liegen die Grenzen der eigenen Zuständigkeit? Trägt jemand Mitschuld, wenn er Massaker oder gar einen Völkermord nicht verhindert?

Die Debatte ist überfällig. Seit diesem Jahr hat die Bundesrepublik wieder einen nichtständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Prominente CDU-Politiker fordern einen gemeinsamen europäischen Flugzeugträger. Die Bundeswehr beteiligt sich an zahlreichen Auslandseinsätzen – über 50 seit 1991. Kennen Sie die aktuellen Einsatzgebiete? Wissen Sie, welche Parteien im Bundestag dafür oder dagegen gestimmt haben? In dieser Ausgabe des Knickers finden Sie dazu Antworten, Hintergründe und die Positionen der Wissenschaft. Die Riesenkarte zeigt die Konflikte, Interventionen und Friedensmissionen des 21. Jahrhunderts.

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Autor:innen

Geboren 1988, von 2017 bis 2022 bei KATAPULT und Chefredakteur des KNICKER, dem Katapult-Faltmagazin. Er hat Politik- und Musikwissenschaft in Halle und Berlin studiert und lehrt als Dozent für GIS-Analysen. Zu seinen Schwerpunkten zählen Geoinformatik sowie vergleichende Politik- und Medienanalysen.

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