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Wirkung von Sperrstunden

Staatlich verordnete Nachtruhe

Von und

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Der Morph Club in Bamberg öffnet seine Türen schon lange nicht mehr. Nach über zehn Jahren Betrieb schloss er im August 2014. Geschäfte kommen und gehen, aber hier fragt man sich, ob die Schließung vielleicht auch mit politischen Entscheidungen zusammenhängen könnte. Ein Indiz dafür ist, dass auch andere Clubs im Stadtgebiet ihr Konzept weg von kostspieliger Livemusik hin zu günstigerer Musik vom Band änderten. Seit sich der Stadtrat für eine Sperrstunde von 2 Uhr nachts werktags und 4 Uhr am Wochenende ausgesprochen hat, lohnt es sich laut einigen Veranstaltern wirtschaftlich nicht mehr, ein aufwendiges Abendprogramm anzubieten.

Damit ist Bamberg nicht alleine. 2005 wurde in Bayern entschieden, dass die Gemeinden die Öffnungszeiten von Bars und Clubs selbst regeln dürfen. Landesweit vorgeschrieben blieb nur eine Schließung zwischen 5 bis 6 Uhr, die sogenannte Putzstunde. Diese Regelung passte sich an die liberalere Gesetzeslage anderer Bundesländer an. Während sich durch diese Freigabe das Nachtleben entwickelte, stiegen gleichzeitig die angezeigten Körperverletzungen in der Polizeilichen Kriminalstatistik in Bayern an. Anwohner beschwerten sich nach Einführung der Antirauchergesetzgebung 2008 zudem vermehrt über Ruhestörungen vor den Clubs und Kneipen.

Im Ergebnis haben bisher acht bayerische Städte (Bamberg im März 2011) die Sperrzeit wieder ausgedehnt, nur in Passau scheiterte der Stadtratsbeschluss vor Gericht. Joachim Herrmann – damals wie heute Innenminister von Bayern und auch für das neue Polizeigesetz verantwortlich – äußerte in einer Pressemitteilung 2013, dass die Maßnahme alkoholbezogene Störungen reduziert und somit die öffentliche Sicherheit in diesen Städten erhöht habe. Er riet anderen Kommunen, ebenfalls eine Sperrzeitverlängerung einzuführen.

Im Gegensatz dazu äußerte der Bamberger Polizeipräsident auf einer Evaluationsveranstaltung bereits 2012, dass es nach Einführung der verlängerten Sperrzeit zu keiner Reduzierung der Polizeiaktivitäten gekommen sei. Er stellte jedoch nicht die Maßnahme als solche in Frage, sondern führte als Erklärung an, dass die Umsetzung schlicht noch nicht restriktiv genug gewesen sei, um die gewünschte Wirkung zu erreichen. Bisher hatten Bars und Clubs in Bamberg noch mehrere Ausnahmegenehmigungen bei der Stadtverwaltung erhalten. In der Folge sank nun die Zahl dieser Ausnahmegenehmigungen rapide.

Die Forschung ist sich uneins

In der internationalen Sperrzeitforschung konkurrieren zwei Theorien miteinander. Die »Availability Theory« (Verfügbarkeitstheorie), nach der durch Kaufeinschränkungen von Alkohol[1] auch die mit Alkohol einhergehenden Probleme abnehmen,[2] und die »Situational Crime Prevention Theory« (SCP, Theorie der situativen Kriminalitätsprävention), nach der Kriminalität sinkt, wenn man weniger Situationen schafft, die diese begünstigen.[3] Sperrzeiten können solche kriminalitätsbegünstigenden Verhältnisse erzeugen, indem sie dafür sorgen, dass eine große Anzahl alkoholisierter Personen im Ausgehviertel gleichzeitig aus verschiedenen Bars auf die Straße strömt und es zu »Overcrowding«-Situationen (Überfüllung) kommt, die Konfliktpotential erzeugen. Verglichen mit einem stetigen Abfluss der Clubgäste ohne Sperrzeit, entstehen in Städten mit konzentrierten Ausgehvierteln durch Sperrzeiten zusätzlich Situationen für unerwünschte soziale Phänomene wie Ruhestörung oder Körperverletzung.

Da sowohl das Ausmaß von Overcrowding als auch die Anzahl alkoholisierter Personen schwer zu messen sind, wurde in der Literatur auf Proxy-, also Stellvertretermaße ausgewichen. Das sind beispielsweise die Zahl der Krankenhausnotfalleinweisungen oder die Zahl von durch die Polizei aufgenommenen Straftaten an bestimmten Uhrzeiten und Orten. Obwohl die Mehrheit wissenschaftlicher Arbeiten für die Availability Theory argumentiert, mussten Übersichtsartikel feststellen, dass viele methodische Defizite existieren, etwa dass kaum Kontrolleinheiten verwendet wurden.[4] Mal ist die Datenbasis oder die Methodik zweifelhaft, mal passt die Interpretation der Ergebnisse nicht zu den Daten. Eine kanadische Untersuchung zeigte beispielsweise, dass sich die alkoholassoziierten Notfallanrufe kurz nach der Sperrzeit häufen, vor allem am letzten Tag des Monats, wenn viele Gäste ihre Gehälter ausgezahlt bekommen. Trotzdem verteidigen die Autoren die Sperrzeitregelung und plädieren dafür, die Zahl der Bars in bestimmten Gebieten zu reduzieren.[5]

Die bisher vermutlich aufwendigste Arbeit stammt aus Norwegen. Dort wurden Daten zu 18 Städten über 43 Quartale ausgewertet und Gewalthandlungen im Stadtzentrum mit jenen in der Peripherie sowie den Sperrzeitregelungen untersucht. Als Zeitspanne wählten die Norweger 22 bis 5 Uhr, obwohl alle Änderungen der Öffnungszeiten zwischen 1 und 3 Uhr stattfanden – vermutlich weil sie wenige Ereignisse in dem zu engen Zeitfenster gezwungen hätten, von der Quartals- auf die Jahresbetrachtung zu wechseln, was die Fallzahl der Stichprobe reduzierte hätte.

Die Studie kommt zu dem Schluss, dass eine Verkürzung der Öffnungszeiten um eine Stunde die Gewaltdelikte um 16 Prozent reduzieren würde.[6] Wir haben die Studie mit den norwegischen Originaldaten noch einmal repliziert. Nachdem der zeitliche Trend, der langfristige Änderungen im Ausgehverhalten abbildet, ins Modell aufgenommen wurde, sank der Effekt der Sperrzeitstunde von 16 auf 7 Prozent und war statistisch nicht mehr signifikant. Zudem wurde in der norwegischen Studie nicht berücksichtigt, wie hoch das Gewaltniveau zu den übrigen Tageszeiten in den einzelnen Städten war.

Bayern: Beeinflussen Sperrstunden nächtliche Gewalt?

Zurück von Norwegen nach Bayern. Wessen Beobachtung lässt sich nun nachweisen – die des Innenministers oder die des Polizeipräsidenten? Mit Hilfe von Daten einer Sonderauswertung des bayerischen Innenministeriums für 13 Städte haben wir ein eigenes Modell aufgebaut. Leider war eine bayernweite Auflistung von Ruhestörungen aufgrund unterschiedlicher Zählmethoden der lokalen Polizeipräsidien nicht möglich. Es wurden deshalb Gewaltdelikte[7] auf 1.000 Einwohner pro Jahr verwendet. Der Untersuchung standen mit dem Zeitraum 2002 bis 2013 auch Jahre vor der Übertragung der Gesetzgebungskompetenz zur Sperrzeit auf die Kommunen im Jahr 2005 zur Verfügung. Unter der Kontrolle eines Zeittrends (Stellvertreter für Änderungen im Ausgehverhalten) reduzierte eine Sperrzeit laut unserem ersten Modell nächtliche Gewaltdelikte zwischen 2 und 6 Uhr. Bezieht man die Quote der nichtnächtlichen Gewaltdelikte als Kontrollvariable ins Modell mit ein, wird der Effekt der Sperrzeit jedoch insignifikant.

Letztendlich ließen wir die Variable »Sperrzeit« mit dem nichtnächtlichen Gewaltniveau interagieren und fanden heraus, dass in Städten, in denen ohnehin wenige Gewalttaten stattfinden, die Sperrzeit tatsächlich Körperverletzungen reduzieren könnte.

In Situationen, in denen ohnehin überdurchschnittlich viele Gewaltdelikte auftreten, verschlimmert diese Maßnahme jedoch die Situation in der Nacht. Auch wenn nicht die komplette Streuung in den Daten erklärt werden konnte, wurden neben der Sperrzeit auch spezifische Stadt- und Jahreseffekte sowie die Anzahl von nichtnächtlichen Gewaltdelikten kontrolliert.[8]

Es zeigt sich, dass es bis zum Jahr 2011 einen Trend gibt, in dem Körperverletzungen in fast allen untersuchten Städten in Bayern ansteigen. Diesem mit einer Sperrzeit zu begegnen, hat das Problem durch Overcrowding in der Nacht im Sinne der SCP-Theorie noch erhöht. Städte wie Fürth hingegen konnten vermutlich durch die Einführung einer Sperrzeitverlängerung ihre ohnehin geringen Kennzahlen noch weiter senken. Die Availability Theory ist also für Orte mit geringem Gewaltniveau ebenfalls zutreffend und könnte wohl auch etwas den Effekt nach der SCP-Theorie in den anderen Städten reduzieren.

Generell gilt, dass durch die Festlegung einer Sperrstunde Gewaltdelikte genau in die Zeitphase nach dieser verschoben werden. Das erhöht die gefühlte Sicherheit für jene, die dann ohnehin nicht mehr unterwegs sind. Jedoch ist gefühlte Sicherheit nicht gleichzusetzen mit tatsächlicher Sicherheit.

Was kann die Politik gegen alkoholbezogene Gewalt tun?

Wenn also die Sperrzeit keine geeignete Universalmaßnahme gegen Gewaltdelikte in der Nacht darstellt, was hilft stattdessen? In vielen Ländern gibt es, wie auch in Deutschland, Gaststättengesetze, die verbieten, »Unerfahrene, Leichtsinnige oder Willensschwache aus[zu]beuten« (§4 Abs. 1 Nr. 1 GastG) oder »alkoholische Getränke an erkennbar Betrunkene zu verabreichen« (§20 Nr. 2 GastG). Ein Testlauf in einer englischen Stadt zeigte jedoch, dass 61 der 73 zufällig ausgewählten Lokale den Ausschank an betrunkene Personen nicht einstellten und in 18 Prozent der Fälle diesen Umstand nutzten, um mehr zu servieren, als die Testpersonen bestellt hatten.[9]

Andere Arbeiten zeigen, dass die Gestaltung der Einrichtung in einer Weise, dass sich etwa die Laufwege der Gäste wenig überschneiden (Vermeidung von Overcrowding), aber auch die Schulung des Personals zur Vermeidung von Aggressionen durch Kunden geeignet ist, um die Sicherheit zu erhöhen.[10] Höhere Preise auf alkoholische Getränke können im Gegenzug dazu führen, dass sich der Alkoholkonsum vor dem Besuch von Bars und Nachtclubs erhöht.[11]

In Australien wird derzeit getestet, ob das Problem des Overcrowding verhindert werden kann, indem sogenannte »Lockouts« eingeführt werden. Hiernach darf man die Bar ab einer bestimmten Zeit nicht mehr betreten; jene Gäste, die noch darin sind, dürfen jedoch noch ein bis zwei Stunden bleiben. Ob diese Maßnahme allerdings für die Betreiber wirtschaftlich ist, darf bezweifelt werden.

Letztendlich sollte man nicht vergessen, dass Gewalt gegen andere nur einen kleinen Anteil an allen alkoholbezogenen Problemen abbildet. Notfalldaten aus Amsterdam zeigten, dass in Abhängigkeit vom Ort zwischen nur 4,5 und 9 Prozent aller Einsätze mit Beteiligung von Alkohol wegen Gewaltdelikten stattfinden. Die anderen Einsätze kamen aufgrund von Vergiftungen, Bewusstlosigkeit und Verletzungen infolge von Stürzen zustande.[12] Die britische Regierung begründete etwa die Abschaffung der Sperrzeit Anfang der 2000er Jahre mit dem Argument, dadurch »Binge-Drinking« zu reduzieren – das bedeutet, dass jemand kurz vor Schließung der Bar innerhalb kurzer Zeit mehrere alkoholische Getränken konsumiert. Wenn man die Folgen des Alkoholkonsums politisch reduzieren will, ist es vielleicht am besten, diesen Konsum in geschützte Räume umzuleiten, wo im Ernstfall professionelle Hilfe zur Verfügung steht.

Auch wenn das Instrument der Sperrzeit oft erfolglos dabei ist, Gewaltdelikte zu reduzieren, hat es dann eine wirtschaftliche Bedeutung? Hierüber ist leider nur wenig bekannt. Eine Umfrage unter 30 Barkeepern im isländischen Reykjavík ergab, dass die Hälfte von ihnen seit der Verlängerung der erlaubten Öffnungszeiten pro Abend mehr Gäste zählte und weitere zwei Drittel angaben, dass ihre Gäste nun länger blieben.[13] Eine neuseeländische Arbeit argumentiert wiederum, dass Lokalbetreiber mit einer restriktiven Sperrzeit besser fahren. Demnach könnten diese pro Stunde mehr verkaufen. Sie hätten zudem wenig Anreize, in ihr Lokal zu investieren, da aufgrund der kurzen Öffnungszeit die geografische Lage der Hauptbesuchsgrund ist.[14]

Für den Morph Club in Bamberg hätte eine Änderung der Sperrzeit keine Bedeutung mehr, aber in vielen anderen Städten besteht am Abend noch eine kulturelle Landschaft. Es ist ratsam, ergebnisoffen über Maßnahmen wie Sperrstunden zu diskutieren und die der Availability Theory folgende Formel »je länger die Sperrzeit, desto weniger Gewalt« kritisch zu betrachten. Viele ordnungspolitische Maßnahmen haben unbeabsichtigte Nebenwirkungen. Wie die hier vorgestellten Ergebnisse zeigen, kann dadurch die erwünschte Wirkung sogar umgekehrt werden.

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Autor:innen

Universität Bamberg

Forschungsschwerpunkte
Public Policy, politische Parteien, Politikdiffusion

TU Dresden

Forschungsschwerpunkte
Gesundheitspolitik, Epidemiologie, Sekundärdaten

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