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Entwicklungspolitik

Sind Flüchtlinge die besseren Entwicklungshelfer?

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Seit wann gibt es Entwicklungshilfe und warum?

Das Ende der Kolonialzeit hat im Prinzip nahtlos zum Beginn der Entwicklungshilfe geführt. Oft wurden zunächst ehemalige Kolonien unterstützt. Das gilt zumindest für die staatliche, bilaterale Entwicklungshilfe.

Die multilaterale Entwicklungshilfe begann im Wesentlichen 1944 in Bretton Woods. Wenn Sie an Europa denken, kümmerte sich direkt nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst die neu gegründete Weltbank um die zerstörten Staaten. Als der Marshallplan 1948 in Kraft trat, zog sie sich zurück und konzentrierte sich anfänglich auf Lateinamerika, später dann auf Asien und Afrika.

Die Entwicklungshilfe durch Nichtregierungsorganisationen begann deutlich früher.Kriegshilfsorganisationen wie beispielsweise das Rote Kreuz gibt es seit den 1860ern, Oxfam seit 1942.

Das Warum ist die interessantere Frage. Man unterscheidet bei der Entwicklungshilfe vier Motive: Das offensichtlichste ist, den betroffenen Ländern zu helfen, indem Armut und Kindersterblichkeit reduziert werden, Ungleichheit beseitigt wird und so weiter. Beim zweiten Motiv geht es darum, eine bestimmte Politik zu fördern oder zu belohnen, Menschenrechtsverletzungen zu bestrafen, Demokratie zu fördern, auch gute Wirtschaftspolitik, Geldpolitik und Fiskalpolitik.

Das dritte und vierte sind eigennutzorientierte Motive. Eines ist kommerzieller Art, nämlich dass man versucht, die eigene Wirtschaft zu fördern. Besonders in den frühen Jahren der Entwicklungshilfe ging es dabei um die sogenannte gebundene Hilfe. Das heißt, die Nehmerländer mussten die Hilfe beim Geber ausgeben, sodass ein guter Teil des Geldes in das Geberland zurückgeflossen ist und dessen Industrie gefördert hat. Das vierte Motiv ist geostrategischer Natur und ist besonders während der Zeit des Kalten Krieges das Hauptmotiv gewesen. Es ging dabei darum, mehr oder weniger neutrale Länder zu »bestechen« und für Wohlverhalten zu belohnen - eben Unterstützung für die eine oder die andere Seite mit Geld zu erkaufen.

Bei der Flüchtlingskrise beispielsweise wird Entwicklungshilfe zu einem großen Teil für eigene Motive eingesetzt

Nach dem Ende des Kalten Krieges dachte man, die Entwicklungshilfe stärker dafür einsetzen zu können, wofür sie eigentlich gedacht war: Wirtschaftswachstum, Armutsreduktion, Entwicklungsförderung - stattdessen ist ihr Umfang dann deutlich nach unten gegangen. Es war also ein deutlicher Einbruch der Budgets für die Entwicklungshilfe zu verzeichnen. Das stieg erst wieder 2001 nach den Terroranschlägen von 9/11 an. Seitdem setzen viele Länder - nicht nur die USA, für die das am offensichtlichsten ist - Entwicklungshilfe zur Terrorbekämpfung ein. So werden zum Beispiel Regierungen finanziell unterstützt, wenn sie gegen Terroristen vorgehen. Und der letzte sehr deutlich spürbare Schub setzte jetzt mit der Flüchtlingskrise ein, bei der Entwicklungshilfe eingesetzt wird, um Flüchtlinge aus dem eigenen Land fernzuhalten - also wiederum aus eigennützigen Motiven.

Wie sieht die Entwicklungspolitik Deutschlands aus? Werden hier auch alle vier Motive verfolgt? Wohin fließt die Entwicklungshilfe genau?

Grundsätzlich gelten diese vier Motive auch für Deutschland. Jeder Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung setzt dort aber andere Akzente. Unter den letzten dreien konzentrierte sich Heidemarie Wieczorek-Zeul von der SPD beispielsweise auf internationale Strukturpolitik. Auch die Förderung von Frauen war ihr sehr wichtig. Sie war wohl eher ein Fan von Budget- anstatt von Projektförderung. Dirk Niebel von der FDP hat die Förderung der deutschen Wirtschaft in den Vordergrund gestellt - und das sehr offen. Er betonte, dass deutsche Steuergelder auch der deutschen Industrie zugutekommen sollten. Der derzeitige Minister, Gerd Müller von der CSU, setzt auf Nachhaltigkeit, auf ökologische und soziale Standards.

Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit verändert sich ständig. Aktuell entwickelt sie sich mehr in die Richtung, sich in weniger Ländern zu engagieren - derzeit in etwa 50 Ländern. In den Jahrzehnten davor hat Deutschland mit fast jedem Land auf die eine oder andere Art zusammengearbeitet. Heute versucht Deutschland, sich auf Kernkompetenzen zu fokussieren und dort, wo man dann dabei ist, auch etwas zu sagen zu haben, anstatt in einer großen Zahl von Gebern mit einem kleinen Beitrag unterzugehen. Dafür ist es wichtig, mit mehr Geld wenige Länder zu unterstützen.

Aber auch hier wirken natürlich die Eigennutzmotive. Bei der Flüchtlingskrise beispielsweise wird Entwicklungshilfe zu einem großen Teil für eigene Motive eingesetzt. Und das auf zweierlei Art und Weise: Das eine ist, dass ein Teil der Mittel, die hier im Lande ausgegeben werden, als Entwicklungshilfe verbucht werden dürfen und auch werden - wobei der Rahmen des Möglichen in Deutschland wohl nicht ganz ausgeschöpft wird. Teile dessen, was hier für die Erstversorgung von Flüchtlingen ausgegeben wird, gehen in das Entwicklungshilfebudget mit ein. Es wird aber auch gezielt versucht, Menschen aus Deutschland fernzuhalten, Flüchtlinge in anderen Ländern zu halten. Entwicklungshilfe wird dafür in ihren Ländern oder Regionen eingesetzt. Man hört auch immer wieder, wenn es beispielsweise um den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen geht, dass auch hier politische Ziele mit Entwicklungshilfe verfolgt werden.

Aber es geht auch darum, gesehen zu werden. Es ist nicht nur wichtig, dass man hilft, sondern auch, dabei gesehen zu werden. Das ist Werbung für das eigene Land.

Es ist also immer eine Kombination aus den genannten Motiven, wobei Staaten unterschiedliche Akzente setzen, sich das über die Zeit aber ändert, und zwar in Abhängigkeit von der Situation und den jeweiligen Personen, die beteiligt sind. Man kann sich generell fragen, warum es überhaupt bilaterale Hilfe geben sollte - wenn Geber keine strategischen und kommerziellen Eigeninteressen hätten, gäbe es dafür wenig Gründe. Dann könnte das internationalen Organisationen überlassen werden. Außerdem könnten die Geber einfach Budgethilfe zahlen, anstatt einzelne Projekte zu finanzieren, zumindest in den Ländern mit ausreichend guten Institutionen.

In den 1970ern kam der negativ besetzte Begriff »Wirtschaftsflüchtling« auf. Er bezeichnet Asylbewerber, die aus rein ökonomischen Gründen nach Deutschland einwandern. Reicht die Entwicklungspolitik Deutschlands nicht aus?

Inwieweit Entwicklungshilfe überhaupt wirksam ist, um das Wirtschaftswachstum in den Empfängerländern zu fördern, ist sehr umstritten. Über die verschiedenen Studien hinweg gibt es keinen Konsens: Einige finden positive Effekte, andere keine und wieder andere sogar negative. Es gibt jede Menge negativer Seiteneffekte der Entwicklungshilfe, da sie zum Beispiel Konflikte befeuern und das Steuersystem untergraben kann. Was der Gesamteffekt ist, lässt sich schwer abschätzen.

Es würde wohl niemand davon ausgehen, dass Deutschland alleine in der Lage wäre, andere Länder so sehr zu »entwickeln«, dass »Wirtschaftsflüchtlinge« ausbleiben. Es ist natürlich in erster Linie Aufgabe des jeweiligen Staates selbst, die richtige Politik durchzuführen und Institutionen zu schaffen, um für Wirtschaftswachstum und Entwicklung zu sorgen. Das kann von außen bestenfalls unterstützt werden. Die Vorstellung, mit dem, was man da gibt, ein Land »entwickeln« zu können, wäre eine Illusion. Man muss das in der Perspektive sehen: Deutschland gibt vielleicht 13 Milliarden Euro im Jahr, inklusive seiner Zahlungen an internationale Organisationen. Das sind etwa 0,4 Prozent des BIP [Bruttoinlandsprodukt]. Für einige Empfängerländer ist die Hilfe natürlich eine sehr hohe Summe, teilweise die Hälfte ihrer Staatsausgaben, die insgesamt durch Entwicklungshilfe finanziert werden. Aber über die Länder hinweg sind das vielleicht fünf bis sechs Prozent des BIP - das reicht natürlich nicht alleine aus.

Dazu kommen Verteilungsfragen. Es ist nicht damit getan, das durchschnittliche BIP eines Nehmerlandes zu erhöhen. Wenn man »Wirtschaftsflüchtlinge« verhindern möchte, muss man beim ärmsten Teil der Bevölkerung ansetzen. Und das mit Entwicklungshilfe komplett zu bewältigen, wäre ein sehr ambitioniertes Ziel.

In einigen Herkunftsländern machen die Rücküberweisungen einen großen Teil des gesamten Investitionsvolumens aus und tragen so ordentlich zum Wirtschaftswachstum bei. Für die deutsche Wirtschaft bedeuten die Rücküberweisungen keinen Schaden

Es gibt das Phänomen der »Rücküberweisungen«. Das bedeutet, dass Migranten Geld, das sie hier verdient haben, in ihre Heimatländer zurücksenden. Wie hoch sind die Beträge? Welche Auswirkungen hat das auf die deutsche Wirtschaft und die des Herkunftslandes?

Das kann nur geschätzt werden. Die Weltbank schätzt pro Jahr ein Volumen von weltweit 540 Milliarden US-Dollar. Das ist deutlich höher als die Entwicklungshilfe. Es gibt Schätzungen der Vereinten Nationen, dass wir weltweit etwa 230 Millionen Migranten haben, ein Großteil davon aus Entwicklungsländern. Wir sprechen hier also von großen Zahlen, sowohl von Menschen, die sich in anderen Ländern aufhalten, als auch von großen Summen, die zurücküberwiesen werden. Das hat natürlich Auswirkungen auf die Gastländer und die Herkunftsländer. In der Fachliteratur werden in den letzten Jahren eher die positiven Aspekte betont, und einer davon sind die Rücküberweisungen.

In einigen Herkunftsländern machen die Rücküberweisungen einen großen Teil des gesamten Investitionsvolumens aus und tragen so ordentlich zum Wirtschaftswachstum bei. Für die deutsche Wirtschaft bedeuten die Rücküberweisungen keinen Schaden. Wenn die Migranten jedoch ausschließlich die deutsche Wirtschaft ankurbeln würden, wäre das aus Sicht der Unternehmen kurzfristig sicher von Vorteil. Langfristig ist Vieles vorstellbar: Die Migranten kommen mit deutschen Produkten in Berührung und wollen deutsche Produkte auch in ihrem Herkunftsland haben. Das könnte den Handel mittelfristig fördern. Dadurch kommen dort andere Menschen mit deutschen Produkten in Kontakt. Ein übertriebenes Beispiel: Wenn ein zurückgekehrter Migrant einen Mercedes fährt, wollen die Nachbarn vielleicht auch einen Mercedes haben. Was hier insgesamt überwiegt, kann man jedoch nicht abschätzen.

Warum ist es politisch wertvoll, wenn Migranten beziehungsweise Flüchtlinge Geld an ihre Familien überweisen?

Ich weiß nicht, ob das politisch wertvoll ist. Zunächst ist es die freie Entscheidung der Menschen aus Ländern mit freiem Kapitalverkehr, was sie mit ihrem Geld machen. Es handelt sich hierbei ja nicht um einen koordinierten Kapitalfluss, sondern um viele kleine Ströme, teilweise 100-Euro-Beträge und weniger. Diese werden in Länder überwiesen, um zurückgebliebene Freunde und Familienangehörige zu unterstützen. Denen kommt das dann eben direkt zugute. Wie sich das insgesamt auf ein Land auswirkt, geht aus der Summe all dieser Einzelentscheidungen und -investitionen hervor. Bei der Entwicklungshilfe entscheidet hingegen die Regierung, oder aber der Geber.

Insofern sind Rücküberweisungen keine Alternative zur Entwicklungshilfe. Es werden damit zunächst keine Schulen gebaut, keine Straßen, keine Krankenhäuser, sondern einzelne Personen kaufen sich - je nach Land - beispielsweise einen kleinen Bauchladen und stehen damit an der Straße oder eröffnen kleine Geschäfte. Andere vergrößern vielleicht ihr Haus. Die Verteilung ist eine andere als bei der Entwicklungshilfe. Es profitieren diejenigen, deren Angehörige ins Ausland gehen.

Die Migranten haben dann aber möglicherweise auch den Schaden. In den Vereinigten Arabischen Emiraten beispielsweise ist die Arbeit für Migranten nicht gerade ein Zuckerschlecken. Es ist für eine Mutter nicht leicht, für Jahre in einem fremden Land zu arbeiten - unter teilweise auch unangenehmen Bedingungen -, dafür vielleicht ihre Kinder zurückzulassen und sie selten oder gar nicht zu sehen, um so das Familieneinkommen zu sichern.

Sind die Rücküberweisungen sinnvoller als staatliche Entwicklungshilfe, und wenn ja, sollten wir Flüchtlingen mehr Geld geben und die Entwicklungspolitik zurückfahren?

Wie bereits erwähnt, erzielen Rücküberweisungen vollkommen andere Verteilungseffekte als staatliche Entwicklungshilfe, bei der eine Regierung über Investitionen entscheidet. Das kann gut und schlecht sein, je nachdem, von welchem Land wir sprechen. Rücküberweisungen werden selten besteuert, sie gehen am Fiskus vorbei. Mit ihnen werden keine Institutionen gestärkt oder Straßen gebaut. Durch Rücküberweisungen können indirekte Effekte erzeugt werden: Wenn Länder durch die Rücküberweisungen reicher werden, steigt auch die Nachfrage nach einer besseren Infrastruktur. Entwicklungshilfe und Rücküberweisungen sind aber zwei unterschiedliche Dinge mit unterschiedlichen Auswirkungen.

In der Fachliteratur werden die Rücküberweisungen insgesamt positiver wahrgenommen als staatliche Entwicklungshilfe

Bei einem Vergleich kommt es auch sehr darauf an, was das Ziel der Politik ist. Wenn es beispielsweise darum geht, Flüchtlingsströme zu begrenzen, sind beide Unterstützungsarten unter Umständen ähnliche Instrumente. Aber es ist eben die Frage, was effektiver ist. In der Fachliteratur werden die Rücküberweisungen insgesamt positiver wahrgenommen.

In welchem Maße hält die deutsche Wirtschaft »Wirtschaftsflüchtlinge« oder Flüchtlinge im Allgemeinen aus?

Ein größeres Angebot an Arbeitskräften ist für die Unternehmen zunächst einmal gut - ausländische stehen im Wettbewerb zu deutschen Arbeitnehmern. Diese empfinden das oft als nicht so gut, vor allem diejenigen mit Ausbildungsgraden, mit denen die Migranten überwiegend konkurrieren. Das sind zum Großteil schlecht Ausgebildete, die sowieso schon durch den technischen Fortschritt und die Globalisierung zu kämpfen haben.

Aber das große Problem ist ein anderes: Natürlich kann ein reiches Land wie Deutschland eine große Zahl an Flüchtlingen aufnehmen. Das wäre - finanziell gesehen - problemlos möglich. Jedoch will ein Teil der Gesellschaft das nicht. Die Politik hat sich hier für einen Weg entschieden, der in Teilen der Bevölkerung auf Widerspruch stößt. Das ist aber nicht vorwiegend ein wirtschaftliches Problem, sondern ein gesellschaftliches und politisches.

Das Interview führte Tim Ehlers.

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Fußnoten

  1. Infolge des in Bretton Woods (New Hampshire, USA) unterzeichneten Abkommens wurden die Weltbank und der Internationale Währungsfonds ins Leben gerufen.

Autor:innen

ist Professor für Internationale Wirtschafts- und Entwicklungspolitik an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. 

Er ist Herausgeber des Review of International Organizations, Präsident der European Public Choice Society (EPCS) und Vorsitzender des Entwicklungsökonomischen Ausschusses im Verein für Socialpolitik. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Entwicklungsökonomie, Globalisierung und der Politischen Ökonomie.

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