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Legislative Gewalt

Schlägereien in Parlamenten

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Wie gewinnt man eine Parlamentsdebatte? Ein südkoreanischer Politiker beantwortete die Frage, indem er seinen politischen Gegner im Parlament mit einer sauber ausgeführten Judowurftechnik auf den Rücken schleuderte. Die Szene wurde gefilmt. Das Video gilt im Netz heute als Lehrstück für einen gut ausgeführten Tomoe Nage. Sportlich gesehen ist die Lage klar: Sieg durch Ippon – aber wie ist das politisch zu werten? Ist Gewalt in Parlamenten normal?

In einigen Ländern ist sie sogar zur Regel geworden. Ukrainische Politiker bevorzugen den Faustkampf, der sich oft zu einer Massenschlägerei entwickelt – Klitschko war bisher nur an einer Rangelei beteiligt. Inder werfen mit Mikrofonhaltern aus Metall und in Jordanien bringt ein Abgeordneter gleich seine Kalaschnikow mit ins Parlament. Aus der Mode gekommen sind Ohrfeigen, Spucken und Würgen. Das kam zwar bereits in südamerikanischen Ländern und der Ukraine vor, aber die meisten kleinen und spontanen Angriffe beschränken sich auf Wasserspritzen oder Papierwerfen.

In der Ukraine versuchte ein Mann mit einem Trick, den damaligen Ministerpräsidenten Arsenij Jazenjuk aus dem Plenarsaal zu tragen

Bei etwa zehn Prozent aller Gewalttaten wird mit Wasserflaschen geworfen oder mit Wasser gespritzt, sagen die Betreiber von »parliamentfights.com«. Oft entsteht danach erst die richtige Schlägerei. Weniger Konsequenzen folgen aus Papierwürfen. Das parlamentarische Eierwerfen führt häufig nur dazu, dass die Zielperson das Rednerpult verlässt oder sich einen Regenschirm als Schutz geben lässt. In der Ukraine versuchte ein Mann mit einem Trick, den damaligen Ministerpräsidenten Arsenij Jazenjuk aus dem Plenarsaal zu tragen. Er ging mit einem Blumenstrauß zum Rednerpult, übergab die Blumen nicht und hob Jazenjuk stattdessen hoch. Als er ihn wegtragen wollte, hielt sich der Ministerpräsident mit seinen Händen jedoch am Rednerpult fest. Er hing dann zwar schräg in der Luft, aber der Versuch, ihn aus dem Saal zu verbannen, scheiterte.

Die sicherste Methode, seinen politischen Gegner aus dem Parlament zu treiben, besteht darin, eine Rauch- oder besser noch: eine Tränengasgranate zu zünden. Im Kosovo ist das passiert. Die Opposition setzte am 19. Februar 2016 Tränengas im Parlament ein, um die Sitzung zu unterbrechen und damit gegen die Regierung zu demonstrieren, die der serbischen Minderheit im Land mehr Autonomie gewähren wollte. Für die kosovarische Opposition ist Tränengas mittlerweile zum festen Bestandteil der parlamentarischen Arbeit geworden. Sie setzt das Reizgas regelmäßig ein. Das Sicherheitspersonal wurde deshalb bereits mit Gasmasken ausgestattet.

Zur Studie: Bitte zwei Schwertlängen Abstand!

Warum haben wir bisher weder Tränengasangriffe noch Judowürfe im Bundestag gesehen? Der Sozialwissenschaftler Christopher Gandrud kann diese Frage beantworten. Er hat in einer Kombination aus Fallstudie und quantitativer Analyse untersucht, warum parlamentarische Gewalt entsteht. In Parlamenten sollen Probleme eigentlich friedlich gelöst werden. Das britische Unterhaus ist extra so gebaut worden, dass Opposition und Regierung mindestens zwei Schwertlängen auseinander sitzen. Bisher ist aber auch noch kein Schwertkampf im Parlament bekannt geworden. Für jegliche andere Arten von Gewalt unter Abgeordneten hat Gandrud diese Gründe gefunden:

Wer sich unfair behandelt fühlt, hat auch kein Problem damit, die Regeln derer, die unfair handeln, zu brechen

Unverhältnismäßige Machtverteilung

Je ungerechter das Verhältnis der Wählerstimmen auf die Vertreter im Parlament übertragen wird, desto wahrscheinlicher ist parlamentarische Gewalt. Wenn das Wahlsystem also die faire Verteilung von Sitzen garantiert, dann entstehen weniger Schlägereien. Gandrud begründet das damit, dass die politischen Akteure sich grundsätzlich für Fairness interessieren und ein Parlament, das die Wähler inkorrekt repräsentiert, eine offene Absage an die Fairness von Wahlen (Outcome) darstellt. Wer sich unfair behandelt fühlt, hat auch kein Problem damit, die Regeln derer, die unfair handeln, zu brechen und unparlamentarische Mittel einzusetzen.

Alte und neue Demokratien

Je jünger eine Demokratie, desto wahrscheinlicher ist Gewalt im Parlament. Gandrud hat für diese Analyse einen Index gewählt, der Verfassungen auf ihren demokratischen Gehalt prüft. Sein eigener Datensatz umfasst 131 Vorfälle von Gewalt in Parlamenten, die zwischen 1981 und 2012 stattfanden. Über 60 Prozent aller Fälle fanden in nur sieben Ländern statt: in Indien, Italien, Mexiko, Südkorea, Taiwan, der Türkei und der Ukraine.

Seine Daten zeigen: Junge Demokratien haben eine neunprozentige Wahrscheinlichkeit, dass Gewalt im Parlament ausbricht. Bereits nach drei bis fünf Jahren sinkt die Wahrscheinlichkeit auf fünf Prozent. Die Kurve geht dann zwar weniger stark, aber dafür stetig nach unten, bis sie nach 75 Jahren der Demokratie eine Wahrscheinlichkeit von 2,5 Prozent erreicht.

In alten, eingespielten Systemen erscheint eine Regelmissachtung schon aus traditionellen Gründen unangebracht

Begründet wird das Phänomen damit, dass in jungen Demokratie die Regeln und Prozesse noch leichter verändert werden können. Ein neues System birgt die Hoffnung, dass noch nicht alle Verfahrensweisen von den Parlamentariern abgestimmt und eingeübt sind. Deshalb ist es einfacher, auch neue Ideen und Prozesse auszuprobieren – darunter fällt auch die Anwendung von Gewalt. Alte Systeme hingegen sind eingespielte Systeme – alle haben sich an sie gewöhnt und eine Regelmissachtung erscheint dann schon aus traditionellen Gründen unangebracht.

Die Wissenschaftler vermuten auch, dass sich in jungen Demokratien deshalb vermehrt Gewalt in ihren Parlamenten ereignet, weil die ersten demokratischen Kräfte zunächst die demokratischen Wahlmodalitäten festlegen. Diese können bestimmte Parteien benachteiligen. Die These lautet hier: Durch neue Wahlmodalitäten entstehen auch immer neue Verlierer. Dieser Moment der Umstellung provoziert Ausschreitungen im Parlament.

Junge Demokratien haben häufig einen politischen Wechsel hinter sich und befinden sich in einem wirtschaftlichen und demografischen Wandel. Heftige Schwankungen in diesen elementaren Bereichen können dazu führen, dass sich die Gesellschaft schneller ändert, als es Wahlen darstellen können. Die Gesellschaft kann also einen anderen Takt haben als die Demokratie. In diesem Fall werden die politischen Interessen der Bürger nicht ausreichend proportional in das Parlament übertragen, wodurch wiederum eine unverhältnismäßige Machtverteilung entsteht.

Große Mehrheitsregierungen

In der politischen Theorie existieren noch weitere Gründe für Ausschreitungen im Parlament. So werden große Mehrheitsregierungen als Ursache dafür angesehen, dass eine schwache Opposition veranlasst wird, ihre Ziele aus Mangel an Gestaltungsmacht auch gewaltsam durchzusetzen. Die Studie von Gandrud widerspricht dieser These jedoch. Je kleiner die Mehrheit der Regierung ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit von Gewalt. Minderheitsregierungen bergen die größte Gefahr einer gewalttätigen Parlamentsarbeit. Gandrud kann dieses Ergebnis durch keine vorhandene Theorie erklären und bleibt deshalb zurückhaltend. Seine Vermutung: Die Mehrheitsregierung ist so mächtig, dass sie selbst potentielle Gewalttaten der schwachen Opposition unterdrücken kann.

Keine Kultur ist kein Grund

Gandruds Studie kann auch zeigen, dass in ethnisch und religiös polarisierten Ländern deutlich mehr Gewalt in Parlamenten auftritt. Die Ergebnisse sind aber nicht signifikant und werden deshalb gar nicht erst ausgewertet. Die gesellschaftliche Spaltung eines Landes ist also kein nachweisbarer Grund für parlamentarische Gewalt – jedenfalls kann das nicht durch diesen Datensatz belegt werden.

An 25 Prozent aller Ausschreitungen sind Frauen beteiligt

Die Studie zeigt insgesamt: Parlamentarische Gewalt ist kulturübergreifend. Sie geht quer durch Kulturen, Weltregionen und Geschlechter. An etwa 25 Prozent aller Ausschreitungen sind Frauen beteiligt. Der Wert ist überraschend hoch, denn der weltweite Frauenanteil in Parlamenten ist niedrig.

Deutschland: erst durchs Fenster, dann die Treppe runter

Gewalt in Parlamenten entsteht also durch eine ungerechte Sitzverteilung im Parlament, oft in jungen Demokratien und sie tritt häufiger in Staaten auf, in denen auch Bürgerkrieg herrscht. Ist die deutsche Demokratie zu alt und zu gerecht für eine Schlägerei im Bundestag? Wahrscheinlich ja. Ungerechte Sitzproportionen, entstanden durch Überhangmandate, werden im Bundestag penibel genau durch Ausgleichsmandate kompensiert. Proportion wird ernst genommen. Einen Übergriff hat es aber trotzdem gegeben und zwar 1950, zu einer Zeit, in der die deutsche Demokratie noch kein Jahr alt war.

Am 10. März 1950 wurde der Parlamentarier Wolfgang Hedler (vorher NSDAP, dann Deutsche Partei) erst durch eine geschlossene Glasscheibe und anschließend eine Treppe heruntergestoßen

Am 10. März 1950 wurde der Parlamentarier Wolfgang Hedler (vorher NSDAP, dann Deutsche Partei) von Herbert Wehner und Rudolf-Ernst Heiland (beide SPD) erst durch eine geschlossene Glasscheibe und anschließend eine Treppe heruntergestoßen. Hedler war vorher vom Bundestagspräsidenten wegen ständigen Störens von der Sitzung ausgeschlossen worden, aber nach kurzer Zeit wieder zurückgekommen. Die beiden SPD-Abgeordneten übernahmen deshalb die Aufgabe des Sicherheitspersonals des Bundestages und stürmten auf Hedler zu. Auch die SPD-Politiker wurden daraufhin für eine Woche des Bundestages verwiesen.

»Phoenix« war damals leider noch nicht mit einer Kamera im Deutschen Bundestag. Deshalb ist nicht genau bekannt, wie Wehner und Heiland Hedler angriffen – ob sie ihn verprügelten, schubsten oder nur vor sich hertrieben, weiß niemand ganz genau. Vielleicht war es auch ein schmissiger Judowurf.

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Dieser Beitrag stammt aus der aktuellen, fünften Ausgabe von KATAPULT. Abonnieren Sie das gedruckte Magazin und unterstützen damit unsere Arbeit.

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Fußnoten

  1. Einer der 40 traditionellen Judowürfe nach Kano Jigoro.
  2. Im Judo bedeutet ein Ippon den sofortigen Sieg für den Judoka.
  3. Vgl. URL: parliamentfights.wordpress.com.
  4. Ebd.
  5. Vgl. Chan, Sewell; Gall, Carlotta: Kosovo Opposition Releases Tear Gas in Parliament, auf: nytimes.com (19.2.2016).
  6. Gandrud, Christopher: Two sword lengths apart: Credible commitment problems and physical violence in democratic national legislatures, in: Journal of Peace Research, Thousand Oaks (53)2015, H. 1, S. 130-145, auf: papers.ssrn.com.
  7. Vgl. o.A.: Two sword lengths, auf: news.bbc.co.uk (18.11.1999).
  8. Der verwendete PolityIV-Index ist umstritten, weil er lediglich beobachtet, was in einer Verfassung steht, aber nicht, wie es auch in der Realität umgesetzt wird. Gandrud kategorisiert alle Staaten mit der Wertung »5« als Demokratien.
  9. Daum, Ella: Mehr Frauen, weniger Krieg, in: Katapult, Greifswald 2017, N° 4.

Autor:innen

Der Herausgeber von KATAPULT und Chefredakteur von KATAPULTU ist einsprachig in Wusterhusen bei Lubmin in der Nähe von Spandowerhagen aufgewachsen, studierte Politikwissenschaft und gründete während seines Studiums das KATAPULT-Magazin.

Aktuell pausiert er erfolgreich eine Promotion im Bereich der Politischen Theorie zum Thema »Die Theorie der radikalen Demokratie und die Potentiale ihrer Instrumentalisierung durch Rechtspopulisten«.

Veröffentlichungen:
Die Redaktion (Roman)

Pressebilder:

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