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Konsumkritik und Popkultur

Mit Adorno bei Krispy Kreme

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Am 26. September 2018 eröffnete im Dubliner Blanchardstown-Shoppingcenter die erste Irlandfiliale der amerikanischen Donut-Kette »Krispy Kreme«. Schon als morgens um sieben die Türen geöffnet wurden, standen die ersten etwa dreihundert Personen Schlange. Auch in den darauffolgenden Tagen ließ der Andrang nicht nach. Kunden, darunter viele Jugendliche und junge Erwachsene, warteten Stunden, bevor sie vor dem Verkaufstresen standen oder im »Drive-through« ihre Bestellung aufgeben konnten. Als sie endlich an der Reihe waren, gab es für so manche Konsumenten kein Halten mehr. Ramona, die dem Irlandkorrespondenten des Guardian lieber nicht ihren Nachnamen nennen wollte, trug zwei Kartons mit Donuts aus dem Laden: »It’s my fourth time«, sagte sie, und fügte erklärend hinzu, »[t]hey’re too sweet. I can’t stop.«

Mit Phänomenen wie Hollywood, Jazz, Rock ‘n’ Roll, McDonald’s und Beatlemania steht Krispy Kreme in einer langen Reihe kommerzieller Vergnügungen, die über Europa und Nordamerika hinaus Begeisterung geweckt, aber auch Kritik provoziert haben. Das Vergnügen der einen traf auf die Ablehnung der anderen, damals wie heute. Zwar hat die Kulturkritik im Laufe des 20. Jahrhunderts an Schärfe verloren und kommerzielle Unterhaltung an Akzeptanz gewonnen. Doch die frühere Sorge konservativer Bürger, Kirchen und auch der Arbeiterbewegung über Maßlosigkeit, Sittenverfall und fortschreitende Verdummung klingt nach. Sie findet heute Ausdruck in spöttischen Presseberichten über die scheinbare Verrücktheit der sogenannten Massen und zuckrige Teigringe als Faktor zunehmender Fettleibigkeit.

Ein Blick auf die historisch-sozialwissenschaftliche Forschung zum Thema zeigt, dass sich die Kritiker auf die Seite der Anhänger des kommerziellen Vergnügens geschlagen haben. Die ersten systematischen Studien zum »populären Vergnügen«, wie Tanzabende, Kinofilme, Rummelplätze oder ähnlicher Zeitvertreib, wurden bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Auftrag von Philanthropen, Kirchen und Behörden durchgeführt. Sie dienten dazu, Arbeiter, Kinder und Jugendliche vor den Gefahren von »Kultur minderer Güte« zu schützen und sie zu den »höheren Weihen echter Bildung« zu führen.

Selbst Max Horkheimer und Theodor Adorno unterschieden in ihrer einflussreichen These von der kommerziellen Unterhaltung als »Massenbetrug« noch zwischen »guter« und »schlechter« Kultur. Veröffentlicht hatten sie diese nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in ihrer »Dialektik der Aufklärung«. Nach Ansicht der beiden Sozialwissenschaftler verwandelte eine »Kulturindustrie« Kunst in einfach konsumierbare Unterhaltungsware und beraubte sie dadurch ihrer Kraft, existentiell verstörend und dadurch aufklärend zu wirken. – Frei nach Horkheimer und Adorno: Anstelle von Gebäck, das unsere Geschmackserwartungen herausfordert, laufen bei Krispy Kreme süße Donuts vom Band, denen schwer zu widerstehen ist, die aber ohne Nährwert sind. Die geschäftliche Effizienz des weltweit über 1.000 Filialen umfassenden Unternehmens und das bedarfsweckende Spektakel der fabrikmäßigen Donut-Produktion hinter Glas hätten den beiden Kritikern als Beleg für ihre pessimistische Diagnose gereicht.

Die spätere Forschung kritisierte an dieser Interpretation, dass sie die Vielen zu bloßen Opfern einer kapitalistischen Verschwörung reduziere und ihnen dadurch jegliche Handlungsmacht abspreche. Um beim Beispiel zu bleiben: Krispy-Kreme-Kunden stehen mit ihren jeweils eigenen Motiven Schlange und machen sich ihren eigenen Reim auf das zuckrig-fettige Angebot. Anhänger der »Cultural Studies« ebenso wie Historiker, die in den späten 1970er-Jahren kommerzielle Popkultur als ernstzunehmenden Untersuchungsgegenstand entdeckten, hätten sich für die zahlreichen Youtube-Videos interessiert, die abseits des etablierten Medien- und Expertendiskurses die Ankunft von Krispy Kreme in witzigen Interviews, Wettessen und Produktbewertungen kreativ verarbeiten.

Die neue Deutung kehrte Horkheimers und Adornos Erzählung vom Massenbetrug allerdings bloß um in das Narrativ vom symbolischen Widerstand im Kampf um die kulturelle Vormacht. Sahen Adorno und Horkheimer die »Masse« von einer mächtigen Kulturindustrie manipuliert, betrachteten die »Cultural Studies« Rocker, Punks und Hip-Hopper als Anhänger von »Subkulturen«, die unter kreativer Verwendung des Materials kommerzieller Kultur (wie Donuts) Opposition gegen bürgerliche Bevormundung bezogen. Diese Interpretation blieb eingebettet in das Narrativ des Klassenkampfes, der sich nunmehr auf dem Terrain der Kultur abspielte und mit symbolischen Waffen ausgefochten wurde.

Auch gegen diese zweite Deutung erhoben sich Einwände. Unter anderem konnten weder Soziologen noch Historiker übersehen, dass die Trennlinie zwischen Freunden und Feinden der Popkultur nicht sauber zwischen den Klassen verlief. Die Anhänger »ernstzunehmender« Rockmusik etwa distanzierten sich von »seichter« und tanzbarer Popmusik, die als weiblich und schwarz konnotiert war und entsprechende Ausgrenzungseffekte mit sich brachte. Nicht zufällig und ungeachtet der Einflüsse des Blues wurde Rockmusik seit ihrem Durchbruch Mitte der 1960er-Jahre von jungen, weißen Männern dominiert. Kurzum, kommerzielle Popkultur ließ sich nicht einfach als Unterhaltungskultur der »kleinen Leute« oder als »Folklore der Industriegesellschaft« deuten.

Eine Schlussfolgerung, die Historiker aus dieser Kritik an der frühen sozialgeschichtlichen, auf sozioökonomische Klassen fokussierten Perspektive zogen, bestand darin, »Massenkultur« im Zusammenhang umfassender kulturgeschichtlicher Entwicklungen zu betrachten. So wird etwa das kommerzielle Vergnügen während der »langen« Wende zum 20. Jahrhundert (etwa 1880-1930) als Mittel einer »inneren Modernisierung« betrachtet. Demnach erlernten die Zeitgenossen durch Filme, Fahrgeschäfte auf dem Rummelplatz, »exotische« Varietévorführungen und ähnliche urbane Vergnügungen eine Toleranz für das Tempo, die kulturelle Vielfalt und die Überfülle der Sinneseindrücke, die die moderne Existenz erforderte.

In ähnlicher Weise haben Historiker die »kulturelle Amerikanisierung« der westdeutschen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg im Zusammenhang mit ihrer Demokratisierung und Entwicklung zu einer Konsumgesellschaft gesehen. Die jugendlichen Fans von Elvis bildeten demnach eine Avantgarde, die überkommene Normen infrage stellten und neue, informelle Verhaltensweisen wie »Lässigkeit« einübten, die der liberal-demokratischen Konsumgesellschaft entsprachen. Analog dazu haben Historiker die angloamerikanisch geprägte Popkultur der 1960er-Jahre als Faktor eines »Wertewandels« interpretiert. Erneut wurde Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine Vorreiterrolle dabei attestiert, Autonomie und Selbstverwirklichung als neue immaterielle Leitwerte zu etablieren. Sie hätten das Streben nach materiellem Wohlstand verdrängt, und zwar nicht nur unter Hippies. Paradoxerweise artikulierten die konsumkritischen jungen Leute ihre Ablehnung vom Konsum im Medium kommerzieller Popkultur.

Auf das Beispiel Krispy Kreme angewandt, könnte man aus kulturgeschichtlicher Perspektive die Begeisterung der Iren für den amerikanischen Donut als Zeichen für einen Mentalitätswandel deuten. Demnach wäre ihr übermäßiger Donut-Verzehr das äußerliche Zeichen für ihre psychologische Verarbeitung des lange nachwirkenden Einflusses des britischen Empire, der katholischen Kirche und der Hungerkatastrophen Mitte des 19. Jahrhunderts.

Bevor man jedoch den ganz großen interpretativen Bogen vom Donut zur irischen Mentalität schlägt, lohnt ein genauer Blick auf das Verhalten und die Selbstauskünfte der Schlangestehenden. Denn diese laufen auf eine etwas andere Erzählung hinaus. So erklärten nicht nur die beiden BWL-Studenten Megan und Evan ihre Rolle im Hype um Krispy Kreme derart, dass die Erwartungen von Freunden und Bekannten sie geradezu zwangen, auch einen Donut zu probieren und dies auch zu dokumentieren: »It’s about being part of something, having the picture, posting it«, erklärte Evan. »They made it into a prestige thing.« Wer also dazugehören wollte, musste dagewesen sein. Oder, um es in Megans Worten negativ auszudrücken: »If you’re not participating, you’re missing out.«

Viele Krispy-Kreme-Kunden stellten sich also wegen ihres Rufs innerhalb des Freundeskreises in die Schlange. Der scheinbar unverhältnismäßige Aufwand an Wartezeit, ihre für Außenstehende schwer nachvollziehbare Aufgekratztheit und ihr übermäßiger Verzehr von Fett und Zucker erweisen sich aus dieser Sicht durchaus als rational – geradezu als strategisch. Die Erklärung für den scheinbaren Wahnsinn in Blanchardstown liegt also nicht im amerikanischen Donut-Rezept und auch nicht in einem politisch-kulturellen Kontext, sondern in der gesteigerten Aufmerksamkeit und dem daraus resultierenden Gruppendruck. Auf diese Weise wurde die Eröffnung der Krispy-Kreme-Filiale für viele im wahren Wortsinn ein »Muss«.

Das Verhalten der Donut-Konsumenten blieb ausschließlich auf die Freunde und Bekannten bezogen. Seine Funktion ist, um es mit einem Begriff des amerikanischen Soziologen Erving Goffman auszudrucken, das »impression management«, also die vorteilhafte Selbstdarstellung vor relevanten Anderen. Kritische Journalisten, mahnende Lehrer und besorgte Eltern spielen folglich in den Interviewfragmenten und Youtube-Videos zum Thema nicht die geringste Nebenrolle. Deshalb scheint die Erzählung vom symbolischen Widerstand auf dieses wie viele andere Peergroup-bezogenen Beispiele von Popkultur nicht recht zu passen. Außenstehende mögen unkonventionelles Gebaren als Rebellion auffassen. Die vermeintlichen Widerständler haben jedoch andere Sorgen. Sie kümmern sich darum, vor der »Peergroup« das Gesicht zu wahren.

Popkultur feiert sich selbst als emanzipativ und integrativ, und wird auch meist so beschrieben. Das Dubliner Donut-Beispiel macht jedoch darauf aufmerksam, dass man Pop auch als eine große Zumutung sehen kann. Etwas probiert zu haben, dabei gewesen zu sein, die richtige Kleidung und die richtige Meinung über die popkulturellen Dinge zu haben, entscheidet in vielen Kreisen darüber, wer dazugehört und wer sich andere Freunde suchen muss. Wer annimmt, dass die soziale Welt nicht von anonymen Kräften wie Modernisierung, Werten oder Mentalitäten zusammengehalten wird, sondern zum Gutteil aus Interaktionen besteht, wird sich für die kleinteilige Mechanik rund um den Donut interessieren. Die Geschichtswissenschaft hat, wie gesagt, ihre Aufmerksamkeit bislang vermehrt auf die »großen« Zusammenhänge gerichtet.

Eher stiefmütterlich hat sie schließlich auch die Anbieterseite von Zucker und Fett behandelt. Mit dem Verweis darauf, dass es letztlich die Konsumenten des Vergnügens sind, die diesem einen Sinn geben, und dass diese Konsumenten nicht von einer allmächtigen »Kulturindustrie« gesteuert werden, wurden die Produzenten als nicht besonders interessant oder wichtig ausgeblendet. Das ist schon deshalb bedauerlich, weil in der Organisation und der Arbeit des Vergnügungsgeschäfts eigene Geschichten stecken, die zum Verständnis von Wirtschaft und Arbeit in der postindustriellen Gesellschaft beitragen können. In gleicher Weise hätte so mancher Zeitungsartikel von einem Blick auf das Franchise-Modell und die Jobs hinter dem Verkaufstresen, in der Vorführbäckerei und entlang der Zulieferkette im 24-Stunden-Betrieb von Krispy Kreme profitiert.

Abgesehen davon wird ein Ereignis wie die Dubliner Donut-Filialeröffnung nicht zufällig in der oben beschriebenen Weise sozial folgenreich. Um die Frage zu beantworten, warum ausgerechnet Krispy Kreme gerade diese Resonanzen erzeugte, muss man wohl auch über die Motive der Konsumenten hinaus auf die Strategien der Anbieter schauen.

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Fußnoten

  1. Carroll, Rory: ’It’s as if we’ve never seen a doughnut’: Dublin gets a sugar rush for Krispy Kreme, auf: theguardian.com (9.10.2018).
  2. Vgl. McCrave, Conor: »Three generations all going mad for doughnuts« – Krispy Kreme craze shows no signs of slowing down, auf: independent.ie (3.10.2018); Conor Pope, Does fat Ireland really need a drive-­through doughnut?, auf: irishtimes.com (14.3.2018).
  3. Vgl. Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947.
  4. Grundlegend die Sammlung Jefferson, Tony; Hall, Stuart (Hg): Resistance through Rituals, London 1975.
  5. Vgl. bspw. Thomas Arnold: Krispy Kreme came to Ireland, auf: youtube.com (30.9.2018); The Smyth View: Krispey Kream Dublin & ­McGregor Fight! Vlog #43 (7.10.2018); Lukka Conway: Krispy Kreme Came 2 Ireland (7.10.2018).
  6. Vgl. bspw. Hebdige, Dick: Subculture. The Meaning of Style, London 1979.
  7. Vgl. Wald, Elijah: How the Beatles destroyed Rock ‘n’ Roll. An alternative History of American Music, New York 2009.
  8. Vgl. Levine, Lawrence W.: The Folklore of Industrial Society. Popular Culture and Its Audiences, in: American Historical Review, (97)1992, H. 5, S. 1369-1399.
  9. Vgl. Maase, Kaspar: BRAVO Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der fünfziger Jahre, Hamburg 1992.
  10. Siegfried, Detlef: Time is on my Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006.
  11. In ähnlicher Weise argumentiert Kinsella, Carl: Dublin’s Krispy Kreme Fiasco proves that Ireland is permanently on the Verge of Eruption, auf: joe.ie (3.10.2018).
  12. Carroll 2018.
  13. Vgl. Goffman, Erving: The Presentation of Self in Everyday Life, New York 1959.
  14. Vgl. Collins, Randall: On the Microfoundations of Macrosociology, in: American Journal of Sociology, (86)1981, S. 984-1014.

Autor:innen

Universität Oslo

Forschungsschwerpunkt
Geschichte der Populärkultur im Deutschland und Großbritannien des 20. Jahrhunderts

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