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Umverteilung

Mehr Piketty – weniger Gabriel

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Sigmar Gabriel hat im Frühjahr die Frage an Angela Merkel gerichtet, » ob sie der sozialen Spaltung der Gesellschaft tatenlos zusehen will «. Das ist ein starker Satz, allerdings nicht deshalb, weil der SPD-Vorsitzende damit einen wirklichen Beitrag für eine politische Kurswende Richtung mehr Gerechtigkeit geleistet hätte. Warum nicht?

Erstens, weil dem Vorstoß Gabriels eine so offene Verweigerung anhaftet, sich mit dem eigenen Beitrag zu ebenjener Spaltung auseinanderzusetzen, die er zum Gegenstand einer parteipolitisch motivierten Klage macht - ausgesprochen hat der SPD-Mann seine Kritik an der CDU-Kanzlerin kurz vor den drei Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt. Und zweitens reproduziert Gabriel mit seiner Forderung nach einem » Solidaritätsprojekt für unsere eigene Bevölkerung « in der sogenannten Flüchtlingskrise, die in Wahrheit eine Krise des politischen Umgangs mit Menschen in Not ist, selbst eine Kluft: Die sozialpolitische Eingebung des SPD-Vorsitzenden bleibt im Kern dem Gegeneinander-Ausspielen von Einheimischen und Asylsuchenden und Migranten verhaftet.

Wo Gabriel von den » eigenen Bürgern « spricht, wird die Rede von » die Flüchtlinge - wir Deutsche « reproduziert und damit der Gegensatz zwischen Oben und Unten zum Verschwinden gebracht, der quer zur Frage verläuft, woher jemand kommt. Die Forderung der SPD, sich von der Ideologie der schwarzen Null abzukehren und Etatüberschüsse in soziale Investitionen zu leiten, ist im Grunde ja richtig. Dabei aber eine Melodie anzustimmen, die von der Herkunft her gedacht wird, anstatt von der sozialen Lage von Menschen, ist kein Beitrag gegen soziale Spaltung, sondern Arbeit an einer bereits existierenden Kluft. Das gilt im Übrigen nicht nur für den SPD-Vorsitzenden.

Eine radikale Wende in der Verteilungspolitik ist keine Frage der Moral, sondern der Vernunft

Ein Rückblick: Als 2013 Thomas Pikettys » Le Capital au XXIe siècle « erschien, passierte erst einmal nicht viel. Doch das sollte sich bald ändern. Die englische Übersetzung der Studie des französischen Ökonomen über die Veränderungen in der Vermögens- und Einkommensverteilung seit dem 18. Jahrhundert sorgte nicht nur wegen seines an Marx' Großwerk der politischen Ökonomie gemahnenden Titels für Schlagzeilen: » Das Kapital im 21. Jahrhundert «. Das Buch führte mit einer einfachen und gut belegten These vor allem zu einer internationalen Debatte über die Besteuerung des globalen Reichtums, über Ungleichheit und Umverteilung. Die Schlussfolgerung - eine progressive Vermögensteuer von bis zu zwei Prozent, verbunden mit einer progressiven Einkommenssteuer, die im Spitzensatz bis zu 80 Prozent erreichen sollte - ging manchem linken Kritiker zwar nicht weit genug. Die Politik aber tat immerhin so, als wolle sie sich des Problems der globalen Ungleichheit annehmen.

Wenige Vermögende werden immer reicher, während für den großen Rest der Bevölkerung im Verhältnis immer weniger vom produzierten Reichtum übrig bleibt

Der Kern der Diagnose wird alle paar Monate neu mit Zahlen untermauert: Wenige Vermögende werden immer reicher, während für den großen Rest der Bevölkerung im Verhältnis immer weniger vom produzierten Reichtum übrig bleibt. Es gibt praktisch kaum einen optimistisch stimmenden Hinweis darauf, dass eine radikale Wende in der Verteilungspolitik bevorsteht. Dabei wäre diese nötiger denn je. Es geht dabei nicht um moralische Fragen. Natürlich sind Verhältnisse » unanständig, in der jemand mehr Wohnraum besetzen als bewohnen kann und Behausungen also leer stehen, damit beim Finanzamt Verluste angegeben werden können, in deren Schatten anderswo, im Warmen, Feuchten und Unsichtbaren, große Gewinne gedeihen «, wie es der Schriftsteller Dietmar Dath einmal formuliert hat - um Entscheidendes hinzuzufügen: Er spricht nicht von Moral, sondern » davon, dass das alles nicht vernünftig ist und deshalb nicht funktionieren kann «.

Denn worauf Piketty, die Organisation Oxfam und viele andere immer wieder verweisen, führt nicht bloß zu verfestigter relativer Armut einerseits und entkoppelt andererseits eine politisch einflussreiche Vermögenselite immer stärker von der Gesellschaft. Der Mechanismus, der durch solche irrsinnigen Formen der Ungleichheit in Gang gesetzt und gehalten wird, untergräbt die Demokratie und droht jeden politischen Ausweg aus der großen Misere zu blockieren.

Der Ursprung der Krise, die 2008 einen gewaltigen Ausschlag nach oben machte, liegt in den 1970er Jahren und damit am Beginn einer Epoche, in der die Märkte dereguliert und das Öffentliche geschwächt, die Vermögensbesitzer ent- und die Beschäftigten belastet, der privat angeeignete Reichtum spekulativ angelegt anstatt produktiv investiert wurde. Ein Signum dieser als Neoliberalismus bezeichneten Epoche ist die Finanzialisierung - die extreme Differenz zwischen den Vermögensbesitzern und den Arbeitskraftinhabern ist zugleich auch Mittel der politischen Absicherung des Status quo: weil die einen immer mehr Einfluss haben und die Organisationen der anderen immer schwächer werden.

Das Geld ist vorhanden, aber ungerecht verteilt

Im Ergebnis ist das der Zerstörung preisgegeben worden, was der Soziologe Wolfgang Streeck demokratischen oder » Sozialkapitalismus « nennt. Das Vertrackte daran: Der Neoliberalismus ist auch schon tot. Eine Politik, die sich dem grundlegenden Kurswechsel verweigert, kauft dem » Zombie « nur immer neue Zeit, das Unvermeidliche hinauszuschieben. Und hierin liegt das Gefährliche: Weil die Krise, die vom vorherrschenden Politikmodell noch vertieft wird, reale Spuren auch in der Substanz des Demokratischen hinterlässt, lauert die Gefahr eines Falls in die Barbarei. Deshalb gilt: Wer über Verrohung, Rechtsentwicklung und Fluchtbewegungen spricht, kann über die Krise und Verteilungsfragen nicht schweigen.

Wenn es stimmt, dass das Kernproblem der hartnäckigen Depression in Europa die unzureichende gesellschaftliche Nachfrage ist, die die Investitionstätigkeit von Unternehmen blockiert und damit die Entstehung von Arbeitsplätzen und die Entwicklung der Lohneinkommen, müsste es um gesellschaftlichen Konsum gehen. Dieser ließe sich dann durch Eingriffe in die Verteilungsverhältnisse ankurbeln, indem höheren Einkommen deutlicher besteuert und Vermögen zugunsten der Finanzierung öffentlicher Güter und Dienste bereitgestellt würde. Das wäre die Parole der Stunde gegen die Gefahr von rechts.

Mancher mag darin eine Pointe sehen, dass etwas eigentlich Ursozialdemokratisches - der Kampf gegen Ungleichheit, die Umverteilung von oben nach unten - heute den Verwaltern des Bestehenden mit SPD-Parteibuch als nicht machbar oder offenbar schon zu revolutionär erscheint. Um Revolution geht es aber derzeit gar nicht. Was einst » historischer Kompromiss « genannt wurde - also eine Politik, die ihr Ziel darin hat, das Abkippen in autoritäre Verhältnisse zu verhindern -, könnte heute » sozialistischer Kompromiss « genannt werden: eine Politik, die beim Thema Umverteilung E rnst macht, weil in der Verteilungsfrage das zentrale Moment sowohl der gegenwärtigen Krise als auch ihrer Überwindung liegt.

Wer sich aber auf die Logik einlässt, das Geld könne eigentlich nur denen hierzulande weggenommen werden, die es schon in der Vergangenheit nicht gerade üppig hatten, will nur der unbequemen Frage aus dem Weg gehen, wie man es zugunsten einer universell verstandenen Gerechtigkeitsidee umverteilen kann

Als links kann aber nur ein universeller Begriff von Gerechtigkeit gelten, der nicht neue Spaltungen aufreißt, nicht neue Konkurrenzverhältnisse erzwingt. Und damit schließt sich der Kreis zu Gabriel: Natürlich, wenn viele Menschen hier Zuflucht suchen, kostet das Geld. Das Geld ist vorhanden, es ist aber ungerecht verteilt. » Wenn die alles Geld für die Flüchtlingsintegration brauchen und die sozialen und kulturellen Angebote für die anderen Bürger deshalb gekürzt werden müssen, ist das sozialer Sprengstoff «, sagt der SPD-Chef mit Blick auf die Kommunen, die von Regierungen, an denen die Sozialdemokraten beteiligt waren oder sind, mit immer neuen Aufgaben belastet wurden. » Alles Geld «, das ist der Knackpunkt, geht von der Vorstellung aus, dass die gegenwärtigen Finanzierungsverhältnisse der öffentlichen Hand unveränderbar sind.

Wer sich aber auf die Logik einlässt, das Geld könne eigentlich nur denen hierzulande weggenommen werden, die es schon in der Vergangenheit nicht gerade üppig hatten, will lediglich der unbequemen Frage aus dem Weg gehen, wie man es zugunsten einer universell verstandenen Gerechtigkeitsidee umverteilen kann. Die zielt auf einen für alle, unabhängig von der Herkunft geltenden Anspruch auf soziale, kulturelle und demokratische Teilhabe. Soziale Garantien verdienen diesen Namen nur, wenn sie für alle gültig sind, eben für » die Bürger «. Und nicht nur für die, die Gabriel als die » eigenen « bezeichnet.

Fußnoten

  1. Vgl. Strohschneider, Tom: Herr Gabriel und die » eigenen Bürger «, auf: neues-deutschland.de (27.02.2016).- Der Artikel bildet die Grundlage für den vorliegenden Beitrag.
  2. Piketty, Thomas: Le Capital au XXIe siècle, Paris 2013; dt. Ausgabe: Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014.
  3. Vgl. Dath, Dietmar: Maschinenwinter. Wissen, Technik, Sozialismus. Eine Streitschrift, Frankfurt 2008, S. 13f.
  4. Oxfam ist ein Verbund von Hilfs- und Entwicklungsorganisationen mit Sitz im britischen Oxford.
  5. Der Begriff beschreibt Prozesse gesellschaftlichen Wandels, die sich aufgrund der zunehmenden Bedeutung der Kredit- und Kapitalmärkte auch auf Sphären jenseits des Finanzsystems erstrecken. Immer mehr Kapital fließt als spekulative Anlage in die Finanzmärkte, wird aber nicht mehr real in die Produktion investiert.
  6. Drechsler, Thomas; Hellemann, Angelika; Pfeffer, Sebastian: Sigmar Gabriel. Der SPD-Chef auf dem Weg zum nächsten Koalitionszoff, auf: bild.de (27.02.2016).

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