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Religion

Mehr Erdbeben, mehr Gottgläubige

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Was passiert eigentlich direkt nach einem Erbeben? Haiti 2010: Das Nachbarland, die Dominikanische Republik, schickt mobile Kliniken, Krankenwagen, Bagger, Hubschrauber, Ärzte, Lebensmittel, Matratzen, Decken und stockt seine Krankenhäuser an der Grenze zu Haiti auf. Die US-Regierung entsendet 6.000 Soldaten und stellt Hilfsgüter sowie 100 Millionen US-Dollar bereit. Ebenso die Weltbank: 100 Millionen Dollar. Frankreich schickt Hilfskräfte und Kuba 400 Ärzte. Mit jedem Tag kommen neue Gelder und Helfer nach Haiti – darunter auch Freiwillige der »Aktion für verfolgte Christen und Notleidende« (AVC).

Die AVC ist eine von vielen christlichen Hilfsorganisationen. Sie hat drei offizielle Ziele. Erstens: verfolgten Christen helfen. Zweitens: Notleidenden helfen. Drittens: Jesus Christus bekannt machen. Viertens, und das ist ihr inoffizielles Ziel: Missionierung. Auf der Seite der Organisation findet sich kein Hinweis auf ihren Missionierungsauftrag. Allerdings ist die AVC eines von über 20 Vollmitgliedern der Arbeitsgemeinschaft Pfingstlich-Charismatischer Missionen. Diese Gemeinschaft verkündet offiziell, nicht genügend für die Ausbreitung des Christentums getan zu haben und die Evangelisation vorantreiben zu wollen.

Die Idee, in Krisenregionen zu missionieren, ist schlau. Das jedenfalls belegt eine neue Studie der Wirtschaftswissenschaftlerin Jeanet Bentzen aus Kopenhagen. Sie fand heraus, dass Menschen in Krisenregionen stärker an Gott glauben und dass unvorhersehbare Katastrophen zu einer direkten Zunahme von Religiosität führen. Von Bedeutung ist dabei, dass es sich um unvorhersehbare Ereignisse handelt. Unwetter beispielsweise sind vorhersehbar und führen deshalb nicht dazu, dass Menschen stärker an Gott glauben.

Religiosität ist weltweit unterschiedlich stark ausgeprägt. Nur 20 Prozent der Chinesen sind beispielsweise gläubig, in Algerien und Pakistan sind es 100 Prozent der Bevölkerung. Auch innerhalb von Ländern variiert die Religiosität. In Shanghai glauben beispielsweise nur zwei Prozent der Chinesen an Gott, in Fujian sind es jedoch 60. Warum das so ist, kann mit »kulturellen Unterschieden« nicht erklärt werden, weil sie genau genommen keine Erklärung sind, sondern Teil der Frage. Das Lebensumfeld, Krisen und kollektive Schocks sind es schon eher und eines davon kann mit Hilfe der neuen Studie ganz konkret belegt werden: In Erdbeben-Risikogebieten leben prozentual mehr religiöse Menschen als in Gebieten mit geringer Erdbebenwahrscheinlichkeit. Schwere Katastrophen können Menschen demnach nur dann bewältigen, wenn sie glauben und beten.

Für ihre Untersuchung zog Bentzen Daten des Umweltprogramms der Vereinten Nationen heran. In fünf Kategorien geben diese Wahrscheinlichkeit und Intensität an, mit der eine Region innerhalb der nächsten 50 Jahre von einem Erdbeben betroffen sein wird. Kategorie null gibt die niedrigste Intensität an, Kategorie vier die höchste. Vor allem in Erdteilen, die sonst weniger von Erdbeben betroffen sind, erhöht sich die Religiositätsrate der Bevölkerung enorm infolge eines Erdbebens.

Erdbeben sind aber nicht der einzige Indikator, der mit der Religiosität korreliert. Auch in Regionen mit erhöhtem Risiko von Vulkanausbrüchen und Tsunamis ist der Glaube an Gott stärker. Mit einer Ausnahme: Auf Buddhisten trifft dieser Zusammenhang laut Studie nicht zu. Bei ihnen ist die Religiosität in denjenigen Gebieten sogar niedriger, in denen diese Naturkatastrophen vermehrt eintreten. Bentzen bemerkt dazu aber, dass die Fallzahl zu klein ist, um eine gesicherte Aussage über Buddhisten treffen zu können. Für alle anderen großen Religionen aber konnte sie den Zusammenhang zwischen Katastrophen und Religiosität nachweisen. Auch Statistiken von Google-Suchanfragen bekräftigen dieses Muster. In US-Staaten mit erhöhtem Erdbebenrisiko suchen die Menschen vermehrt nach den Begriffen »Gott«, »Jesus«, »Bibel« und »beten«.

Gläubigkeit wird vererbt

Warum werden gerade Opfer unvorhersehbarer Katastrophen religiös? Bentzen vermutet, dass alle Religionen ein Angebot der Bewältigung und des Verarbeitens von Schicksalsschlägen enthalten. Unfassbare Ereignisse können nur mit Unfassbarem, und in diesem konkreten Fall mit dem Göttlichen, erklärt werden. Unvorhersehbare Naturkatastrophen sind genau solche unfassbaren Ereignisse.

Menschen glauben also eher, wenn sie von unvorhersehbaren Katastrophen betroffen sind. Das belegt Bentzen geografisch, aber auch zeitlich. Die Religiosität der Menschen steigt auch direkt im Anschluss an menschengemachte Katastrophen. Nach den Anschlägen vom 11. September gaben beispielsweise 90 Prozent der US-Bevölkerung an, zu beten. Der Wert liegt deutlich über dem vor den Anschlägen.

Menschen, die in Erdbebengebieten leben, geben ihre Erfahrungen und damit ihre Religiosität auch an ihre Nachfahren weiter. Das heißt: Gläubigkeit ist »vererbbar«. Kinder von Immigranten aus Erdbebengebieten sind religiöser als Kinder von Immigranten oder Einheimischen aus Nicht-Erdbebengebieten. In einem Erdbebengebiet zu leben, erhöht die Religiosität ganzer Familien und besteht dann über Generationen wie ein kultureller Wert fort.

Die Religiosität ist also nicht an den Ort des Erdbebens gebunden. Was Eltern an Werten an ihre Kinder weitergeben, schafft die Kirche nicht in gleichem Maße. Denn Glauben bleibt den Daten nach eine private Handlung. Dass mehr Menschen in Erdbebengebieten glauben, heißt nicht, dass sie deshalb auch häufiger in die Kirche gehen. Es gibt keine positive Korrelation zwischen Erdbebenwahrscheinlichkeit und der Zahl der Kirchenbesuche.

Wo viel unvorhersehbares Elend ist, sind auch Missionare

Jeanet Bentzen konnte für ihre Studie auf umfangreiche Datenbanken zurückgreifen: Die World Value Survey und die European Values Study geben unter anderem Informationen über die Religiosität von über 400.000 Menschen in 96 Ländern. »Wie wichtig ist Ihnen Gott?« und »Sind Sie eine religiöser Mensch?« werden die Probanden gefragt. Das Gute daran: Auch der Ort des Interviews ist in diesen Datenbanken gespeichert. Die Aussagen können so mit regionalen Erdbebendaten verbunden werden.

Neben Erdbeben, Tsunamis und Vulkanausbrüchen können aber auch noch andere negative Erlebnisse dazu führen, dass die Religiosität steigt – Arbeitslosigkeit, Scheidungen und finanzielle Krisen beispielsweise. Sie treten zwar nicht plötzlich und auch nicht alle zur selben Zeit auf, können aber genauso unvorhersehbar und auch fremdbestimmt sein wie Naturkatastrophen, und so religiöse Bewältigungsstrategien bei den Betroffenen auslösen. Etwas allgemeiner bestätigt das auch Bentzen. Sie prüft zwar keine direkte Folge von sozialen und finanziellen Schocks, kann aber aus ihren Daten erkennen, dass die Religiosität infolge von Erdbeben besonders stark in Gebieten mit geringerem Einkommen, niedrigerem Bildungsniveau und kleinerer Bevölkerungsdichte ausgeprägt ist. Treffen also mehrere fremdbestimmte und unvorhersehbare Ereignisse zusammen, erhöht dies die Wahrscheinlichkeit, dass mehr Menschen an Gott glauben.

Wo viel unvorhersehbares Elend ist, sind auch Missionare. Und das ist der Studie nach auch erfolgversprechend. Opfer lassen sich offensichtlich häufiger missionieren als Menschen mit »stabilen« Lebensläufen. Das kann die Studie zwar nicht belegen, aber die Tatsache, dass christliche Hilfsorganisationen gezielt in den betreffenden Regionen arbeiten, gibt einen deutlichen Hinweis darauf.

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Fußnoten

  1. Sie unterstehen der Lausanner Verpflichtung. Das ist eine freiwillige, christlich-evangelikale Verpflichtungserklärung, die zum Ziel hat, aktiv die Ausbreitung des Christentums zu fördern.
  2. Vgl. hier und im Folgenden Bentzen, Jeanet Sinding: Acts of God? Religiosity and Natural Disasters Across Subnational World Districts, Kopenhagen 2018.

Autor:innen

Der Herausgeber von KATAPULT und Chefredakteur von KATAPULTU ist einsprachig in Wusterhusen bei Lubmin in der Nähe von Spandowerhagen aufgewachsen, studierte Politikwissenschaft und gründete während seines Studiums das KATAPULT-Magazin.

Aktuell pausiert er erfolgreich eine Promotion im Bereich der Politischen Theorie zum Thema »Die Theorie der radikalen Demokratie und die Potentiale ihrer Instrumentalisierung durch Rechtspopulisten«.

Veröffentlichungen:
Die Redaktion (Roman)

Pressebilder:

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