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Treuhand

Krieg der Zahlen

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Mit Statistik macht man Politik. Diese Erkenntnis ist weder neu noch originell. Doch in gesellschaftlichen Umbruch- und Krisenzeiten scheint gerade statistischem Zahlenmaterial ein besonderer Stellenwert zuzukommen, wie sich auch gerade jüngst in den scharfen öffentlichen Debatten um griechische Schulden, Flüchtlingszahlen oder Mietpreisentwicklungen offenbarte.

Statistischem Material, zumal staatlicherseits produziertem, kommt im Meinungsstreit dabei stets eine besondere Rolle zu – entstand und definierte sich doch gerade der moderne Verwaltungsstaat über die möglichst exakte, ja objektive Erfassung und Zählung seiner Bürger und die Erhebung entsprechender Daten als Herrschaftswissen. Nicht zuletzt deshalb genießen etwa Ämter für Statistik einen besonders guten Ruf. Mit Hilfe ihrer Zahlen können sie, je nach gewählter Perspektive, Dinge sichtbar beziehungsweise unsichtbar machen.

Dies trifft besonders auf Umbruchzeiten zu. Die frühen 1990er-Jahre waren in Deutschland eine besondere, bewegte Zeit. Nach dem plötzlichen Zusammenbruch des SED-Regimes im Herbst 1989 sowie der raschen Vereinigung der DDR mit der Bundesrepublik im Herbst 1990 brach über die Deutschen in Ost und West unverhofft eine regelrechte »Vereinigungskrise« herein. Die großen Erwartungen der bewegten Revolutionszeit waren im Laufe nur eines Jahres in Enttäuschung umgeschlagen. Im Fokus stand dabei nun der zügige Umbau der Zentralplanwirtschaft durch die bald »bestgehaßte« Organisation in Deutschland: die im Frühjahr 1990 gegründete Treuhandanstalt. Diese sollte ab März 1990 zunächst im Auftrag des »Zentralen Runden Tisches« das »Volksvermögen« bewahren.

Ab Juli 1990 sollte die Treuhand schließlich nach Beschluss der Volkskammer Tausende Betriebe der DDR unter der Führung erfahrener westdeutscher Industriemanager, Unternehmer und Beamter schnellstmöglich »entstaatlichen«, also vor allem privatisieren, sanieren oder aber abwickeln. Genau durch diesen »historisch einmaligen« Auftrag rückte dieses Gebilde ab 1991 in den Mittelpunkt zahlreicher öffentlicher Debatten, politischer Konflikte und gesellschaftlicher Proteste.

Die Treuhandanstalt und ihr eilig rekrutiertes Personal agierten gewissermaßen im »Herz der Finsternis« des krisenhaften Übergangs der ostdeutschen Betriebe und ihrer Belegschaften von der sozialistischen Plan- zur kapitalistischen Marktwirtschaft. Gerade die weitgehend aus dem allgemeinen Blickfeld geratene Krisenphase der frühen Neunzigerjahre rückt in letzter Zeit wieder in den Fokus von Politik, Öffentlichkeit und Wissenschaft.

Insbesondere die Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien in den neuen Ländern haben das Themenfeld wieder spürbar belebt: Warum tickt gerade »der Osten« Deutschlands noch immer anders als »der Westen«? Statt, wie gewohnt, ausführlich die langfristigen Folgen von SED-Regime oder DDR-Sozialisation vor 1990 zu diskutieren, werden nun auch die vielschichtigen und oft einschneidenden Umbrucherfahrungen vieler Menschen in Ostdeutschland nach 1990 in die gegenwärtigen Debatten verstärkt miteinbezogen. Und gerade die oft umkämpften Entscheidungen der Treuhandanstalt und ihre langfristigen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Folgewirkungen bilden ein zentrales Puzzleteil im noch schwer überschaubaren Mosaik der deutschen Transformationszeit.

8.500 Betriebe in vier Jahren privatisiert oder abgewickelt

So man sich näher mit der Treuhandanstalt beschäftigt, stößt man in ihren Hinterlassenschaften schnell auf ein unüberschaubares Gewirr von Zahlenreihen, Daten und Statistiken. Die umstrittene Organisation hat in den wenigen Jahren ihres Bestehens bis Ende 1994, als sie ihre scheinbare »Selbstauflösung« vollzog, einen regelrechten Ozean an Zahlenmaterial produziert.

Allein ein erster, nur sehr grober Blick auf dieses Zahlenwerk deutet an, welche Dimensionen das Wirken der Treuhand im Grunde hatte: Die von der Organisation sehr eifrig produzierten und veröffentlichten Zahlen handeln von Tausenden Betrieben, Zehntausenden Verträgen, Millionen Beschäftigten oder gar von Schulden, Investitionen und Erlösen, die bis in den dreistelligen Milliardenbereich gingen. Diese Zahlen überstiegen und überforderten oftmals das bloße Vorstellungsvermögen vieler Zeitzeugen – der Journalisten, der Wissenschaftler und Politiker, aber auch zahlreicher Menschen in Ost- sowie in Westdeutschland. Gerade in dieser verwirrenden Zahlen- und Statistikflut liegt ein Grund dafür, dass die Treuhandanstalt bis heute als große Unbekannte in der jüngsten Zeitgeschichte gilt.

Über die groben Rahmendaten des von der Treuhand gelenkten Wirtschaftsumbaus herrscht einigermaßen Einigkeit – so man großzügig gerundete Abweichungen als solche durchgehen lässt. Ursprünglich, im Sommer 1990, standen rund 8.500 Betriebe in 370 Kombinaten mit über vier Millionen Beschäftigten in den Büchern der Treuhandstelle. Zu ihrer Hochzeit 1991/92 organisierten die binnen kürzester Zeit rekrutierten viertausend Treuhandmitarbeiterinnen und -mitarbeiter drei- bis fünfhundert Privatisierungen pro Monat. Nahezu 90 Prozent dieser Privatisierungen war bereits Ende 1992 abgeschlossen. Gut drei Viertel der Betriebe ging dabei an westdeutsche Investoren, meist größere Unternehmen. Jeweils unter zehn Prozent der Verkäufe gingen an ausländische Erwerber oder wurden – oft bei kleineren und mittleren Unternehmen – von Ostdeutschen übernommen. Von den am Ende durch Aufspaltungen entstandenen knapp 12.500 Betriebseinheiten wurden letztlich 53 Prozent privatisiert und 13 Prozent reprivatisiert, also an während der DDR-Zeit enteignete Alteigentümer zurückerstattet. Knapp 2,5 Prozent der Betriebe wurde an Kommunen übergeben. Die restlichen 30 Prozent wurden schließlich stillgelegt beziehungsweise »abgewickelt«. Egal ob Privatisierung oder »Abwicklung« – in jedem Fall hatten die Betriebe ihr Personal im Laufe der Jahre durch beträchtliche Massenentlassungen erheblich reduziert. Von den ursprünglich vier Millionen Arbeitsplätzen blieben nach der Arbeit der Treuhandanstalt knapp eine Million erhalten.

Der »Wert« des »Volksvermögens«

Allein diese groben Rahmendaten zu Betrieben und Beschäftigten deuten es an: In den frühen Neunzigerjahren fand durch die Hände der Treuhandanstalt eine energische Umwandlung von (DDR-)Volkseigentum in zumeist westdeutsches Privateigentum von immensem Ausmaß statt, die zugleich auch von massiv umstrittenen »Abwicklungen« und erheblichen Massenentlassungen begleitet wurde. Wirtschaftshistorisch wird man dieses Gesamtbild sicher noch feiner differenzieren müssen: Während manche Branchen wie Dienstleistungen, Energie, Finanzen, Versicherungen und Verlage als besonders attraktive »Perlen« sehr schnell einen westdeutschen Abnehmer fanden, ließen sich für die die DDR-Planwirtschaft dominierenden, klassischen Großindustrien wie beispielsweise Werkzeug- und Maschinenbau, Metallurgie, Chemie, Textil und Werften nur schwer finanzkräftige Investoren aufspüren. Entsprechend hart wurde nach 1992 um das weitere Schicksal insbesondere dieser »industriellen Kerne« zwischen Treuhand, Politik, Gewerkschaften und Belegschaften in der Öffentlichkeit gerungen.

Als regelrechte »Gretchenfrage« des ostdeutschen Wirtschaftsumbaus erweist sich dabei die immer wieder hartnäckig gestellte Frage nach dem »Wert« des »Volksvermögens«. Gerade in diesem Punkt erweist sich der Zusammenhang zwischen Politik und Statistik als geradezu essenziell – geht es doch auch um eine Art Abschlussbilanz der in über 40 Jahren geschaffenen »Werte« der DDR und ihrer Gesellschaft. Oder anders gewandet: Was hat der Osten in die »Einheit« eingebracht?

Die Meinungen gehen hierbei weit auseinander. Während gerade ehemalige westdeutsche Politiker und Treuhandexperten mit Nachdruck hervorheben, wie abgrundtief marode die im Jahr 1990 vorgefundenen Betriebe der DDR-Planwirtschaft mit ihren veralteten Produkten, verschlissenen Maschinen oder heruntergekommenen Fabrikhallen gewesen seien, betonen gerade ostdeutsche Betroffene hartnäckig deren prinzipielle Wettbewerbsfähigkeit – oftmals unter Verweis auf vor 1989 erfolgreich getätigte Exporte nach Westdeutschland. Nach dieser kritischen Lesart sei die potentielle ostdeutsche Konkurrenz gerade durch die Treuhandanstalt ab 1990 an westdeutsche Konzerne »verscherbelt« oder aber im Ansatz bereits »plattgemacht« worden. Die ostdeutsche Bevölkerung sei so um ihr hart erarbeitetes Vermögen letztendlich betrogen worden.

Doch was war das Ganze denn nun eigentlich wert? Gerade in diesem Punkt wird einerseits deutlich, wie stark materielle Fragen mit symbolischen Konflikten zwischen Ost und West verknüpft sind. Zum anderen sticht grundsätzlich die Kontextbezogenheit von Wertzuschreibungen hervor, wie sich in einer kleinen Zahlenreihe zum öffentlich bekundeten »Wert« des »Volksvermögens« demonstrieren lässt. Hans Modrow, der letzte SED- beziehungsweise PDS-Ministerpräsident, hatte zu Beginn des Jahres 1990 den Wert des »Volkseigentums« auf knapp 950 Milliarden D-Mark beziffert. Auch die Bonner Beamten gingen noch im Juni 1990 davon aus, dass man mit den Milliardenerlösen aus den beabsichtigten Privatisierungen wesentliche Kosten der Einigung würde finanzieren können. Der im August 1990 berufene Treuhandpräsident Detlev Rohwedder, selbst gestandener Industriemanager aus dem krisengeplagten Ruhrgebiet, hatte bei einer Werbeveranstaltung in Wien den »ganzen Salat« – gewiss auch in der Rolle eines Verkäufers – noch auf knapp 600 Milliarden D-Mark geschätzt. Einige Jahre später sollte Rohwedders Nachfolgerin Birgit Breuel das von der Treuhand und ihren Betrieben angehäufte Defizit auf knapp 270 Milliarden D-Mark beziffern. Wie kam es zu diesem immensen Wertverfall binnen kürzester Zeit?

Als zentrale wirtschaftshistorische Zäsur kann sicher die im Juli 1990 vollzogene Wirtschafts- und Währungsunion gelten. Der von der ostdeutschen Bevölkerung herbeigesehnte, paritätische Umtauschkurs von eins zu eins brachte zwar den Neukonsumenten eine Menge kurzfristiger Vorteile, sorgte aber zugleich auch für immense Verwerfungen in den ostdeutschen Betrieben. Diese mussten Löhne und Vorprodukte nun ab sofort in »harter« D-Mark bezahlen und ihre Güter ebenso zu hohen Preisen verkaufen, die so gerade auf den angestammten osteuropäischen Exportmärkten unerschwinglich wurden. Damit war ein regelrechter Teufelskreis in Gang gesetzt:

Ökonomen schätzten den über Nacht eingetretenen »Aufwertungsschock« für die ohnehin in vielen Punkten sanierungsbedürftige und mit hohen ökologischen Problemen belastete Industrie zeitgenössisch auf 300 Prozent. Der abrupte Übergang der DDR-Wirtschaft zu D-Mark und Marktwirtschaft hatte damit den anfänglichen Spekulationen über die zu verteilenden »Werte« des »Volksvermögens« buchstäblich die Grundlage entzogen.

Der »Wert« des »Volksvermögens« erscheint somit als hochgradig relative, kontextabhängige Größe – nicht als absoluter, feststehender Wert. Dementsprechend düster fiel auch die Schlussrechnung aus: Als die Treuhandanstalt im Jahr 1994 ihre Abschlussbilanz vorstellte, hatte man sich an den tiefroten Milliardenreigen schon einigermaßen gewöhnt. Am Ende hatten die Privatisierungen lediglich knapp 70 Milliarden D-Mark eingebracht. Diesen Einnahmen standen umfangreiche Aufwendungen der Treuhand von knapp 350 Milliarden D-Mark gegenüber.

Diese ergaben sich aus der Ablösung so genannter »Altkredite« aus der DDR-Zeit (78 Milliarden D-Mark), der Sanierung von Umweltaltlasten (44 Milliarden D-Mark), den Zuschüssen zur Unternehmenssanierung (150 Milliarden D-Mark) sowie sonstigen Ausgaben, etwa für Personal und Verwaltung (60 Milliarden D-Mark). Damit hatte die Treuhand ihre Arbeit mit einem immensen Defizit von knapp 270 Milliarden D-Mark abgeschlossen, dem sie aber stets 170 Milliarden D-Mark an privaten Investitionszusagen und 1,1 Millionen erhaltene Arbeitsplätze in den privatisierten Betrieben gegenüberstellte.

Die rasche Privatisierung der Planwirtschaft in den frühen Neunzigerjahren erwies sich damit in der Summe für den gesamtdeutschen Staat als immenses Zuschussgeschäft, wobei hier die den Sozial- und Rentenversicherungen aufgebürdeten Kosten für Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit oder Frühverrentungen noch gar nicht inbegriffen sind.

Doch die im Jahr 1990 in die Welt gesetzten, fantastischen Zahlen vom »Wert« des »Volksvermögens« geisterten und geistern bis in die Gegenwart weiter durch die Öffentlichkeit. Und dies erscheint markant: Während man im Osten noch immer über den eigentlichen »Wert« spekuliert und etwa an Rohwedders großzügige Schätzung erinnert, bleiben im Westen (wenn überhaupt) noch die immensen finanziellen Treuhanddefizite und vor allem auch die darüber hinaus geleisteten Sozial- und Transferleistungen in Erinnerung.

Gerade an dieser Stelle wird deutlich, wie stark gerade materielle Bewertungsfragen letztlich mit symbolischen Konflikten zwischen Ost und West verknüpft waren und noch immer sind. Indem sie auf dem vermeintlichen »Wert« des »Volksvermögens« insistieren, versuchten und versuchen gerade auch zahlreiche Ostdeutsche, letztlich die Resultate ihrer eigenen Arbeitsbiografien während der DDR-Zeit vor einer umfassenden »Entwertung« durch Westdeutsche zu schützen. Der erbittert geführte, oft stark ins Verschwörungstheoretische gehende Streit um den »Wert« des »Volksvermögens« bringt diese nach wie vor schwelende Konfliktlage zwischen Ost und West besonders zugespitzt zum Ausdruck.

Ordnung ins Chaos durch die Treuhandstatistik?

Doch wie sah nun die eigentliche Praxis des Wirtschaftsumbaus jenseits dieses bilanzierenden Millionen- und Milliardenreigens eigentlich aus – und welche Rolle spielte das von der Treuhandanstalt in großem Umfang produzierte Zahlenmaterial in diesem Zusammenhang? Man kann den immensen statistischen Output der Organisation auch als massive Reaktion auf die eindrückliche Situation zu Beginn des Wirtschaftsumbaus im Sommer 1990 deuten. Gerade die nun eintreffenden westdeutschen Experten – zumeist erfahrene Manager, Unternehmer und Verwaltungsbeamte – zeigten sich regelrecht schockiert vom informationellen Vakuum, das sie in der Zentrale in Ostberlin und den 15 Niederlassungen in den Bezirkshauptstädten vorfanden.

Hatte man ursprünglich auf ein umfassendes Datengerüst aus den DDR-Branchenministerien oder Planungskommissionen gehofft, war man diesbezüglich sehr schnell enttäuscht worden. Im Grunde wussten die neuen Treuhandführungskräfte in der meist als überaus chaotisch empfundenen Anfangszeit 1990/91 kaum etwas über den realen Istzustand der von ihnen betreuten Betriebe. Einzig die ebenfalls zahlreich rekrutierten ostdeutschen Fachleute konnten entsprechende Informationen über Standorte, Belegschaften oder Produkte aus erster Hand liefern.

Das neue »West-Führungspersonal« reagierte, mit tatkräftiger Unterstützung zahlreicher Unternehmensberater, Finanzexperten und Wirtschaftsprüfer, mit dem umfassenden Aufbau einer eigenen betriebswirtschaftlichen Zahlenwelt rund um ihre Betriebe.

Die systematische Erfassung, präzise Bewertung und informationelle Aufbereitung dieser betrieblichen Daten, deren Erhebung allein wegen der immensen Mengen in der Praxis äußerst schwierig war, erschien gerade diesen Experten als essentielle Voraussetzung für den geregelten Beginn eines forcierten Privatisierungs-, Sanierungs- und Stilllegungsgeschäfts. Ein stets wachsendes Gerüst an Kennziffern, nicht zuletzt verstärkt durch eine unter dem äußeren, politischen Druck anwachsende Dichte an Regeln und Vorschriften aus dem Bonner Bundesfinanzministerium, sollte so statistische Ordnung in das vorgefundene postsozialistische Chaos bringen. Wie aufwendig diese betriebswirtschaftliche »Durchmessung« der ostdeutschen Betriebslandschaft war, verdeutlicht der sehr späte Zeitpunkt, an dem die Treuhandanstalt die vollständige DM-Eröffnungsbilanz für sich und ihre Betriebe zum 1. Juli 1990 vorlegen konnte – dies war erst im Sommer 1992 der Fall, also nach über zwei Jahren.

Die in den Jahren 1991/92 im Zuge der internen Prozesse gesammelten Kennziffern und Betriebsdaten sollten zugleich mit neuester Technologie gebändigt und transparent gemacht werden. Damals modernste Computersysteme und aktuellste EDV-Software wurden rasch für die neue Zentrale angeschafft, die in den allerersten Monaten nicht einmal über funktionstüchtige Telefone verfügt hatte. Der Treuhandbereich »Dokumentation/EDV« hatte schon frühzeitig mit dem systematischen Aufbau eines intern entwickelten »Informationssystems Unternehmensdatenbank« (ISUD) begonnen, in dem letztlich alle Kennziffern zu jeweils einem Unternehmen zentral eingespeist, gesammelt und den zuständigen Mitarbeitern zugänglich gemacht werden konnten.

Diese sich hier nun im Laufe des Geschäftsalltags zusammenballende Datenfülle wurde jedoch nicht nur für die jeweiligen betrieblichen Bewertungs- und Privatisierungsvorgänge als Entscheidungsgrundlage genutzt. Intern rief die Treuhandspitze um Birgit Breuel gerade 1991/92 einen regelrechten Privatisierungswettbewerb zwischen einzelnen Direktoraten und Niederlassungen aus, veröffentlichte zum Vergleich die Kennzahlen der erfolgreichsten Privatisierungsdirektorate oder knüpfte individuelle Bonuszahlungen für Führungskräfte an die Erreichung bestimmter Zielvorgaben. Das Credo, sich so schnell wie möglich selbst überflüssig zu machen, wurde so auch ganz massiv mit Hilfe der zahlreich gesammelten Daten beschleunigt.

Statistiken gegen Emotionen

Die Treuhandanstalt produzierte bei ihrem streng betriebswirtschaftlich ausgerichteten Umbau der ostdeutschen Betriebslandschaft also eine überaus große Datenmenge. Doch auch öffentlich wollte sich die hochumstrittene Organisation mit Hilfe gerade dieser Zahlen beständig Luft im fortwährenden Konflikt mit skeptischen Ökonomen und Journalisten, kritischen Politikern und Gewerkschaftern sowie wütenden Belegschaften und Bevölkerungsgruppen verschaffen.

Man wollte auf diese Weise die eigenen Erfolge beim Wirtschaftsumbau neben dem raschen Privatisierungsfortschritt insbesondere an den hierbei erzielten Erlösen sowie von den privaten Investoren zugesagten Investitionen und Arbeitsplätzen messen lassen. Es waren dann auch zumeist diese Kennzahlen, mit denen die Treuhandanstalt über ihr Direktorat »Kommunikation/Medien« die Öffentlichkeit überflutete. Mittels zahlreicher Datenreihen, Diagramme oder Übersichtstafeln in etlichen Pressemitteilungen, professionellen Imagekampagnen oder eigenfinanzierten Publikationen sollte quasi die unternehmerische »Alternativlosigkeit« der getroffenen Treuhandentscheidungen mit Hilfe vermeintlich objektiver, aber in der Sache häufig doch sehr umstrittener Daten herausgestellt werden – insbesondere auch bei kontrovers diskutierten Privatisierungs- oder Schließungsentscheidungen.

Die Treuhandanstalt versuchte also letztlich, gegen eine zumeist als feindselig empfundene Umgebung einen regelrechten Krieg der Zahlen zu führen. Doch kämpfte sie mit diesem sehr technokratischen Ansatz letztlich doch auf verlorenem Posten. Auch mit noch so »objektiv« ausgeflaggtem Zahlenmaterial konnte man den »subjektiv« insbesondere von vielen ostdeutschen Betroffenen empfundenen Zurücksetzungs- und Entwertungserfahrungen in den Betrieben und Regionen kaum argumentativ beikommen.

Auch die westdeutsche Öffentlichkeit zeigte sich angesichts immer neuer Skandalfälle und medialer Enthüllungen mit Blick auf die Belastbarkeit des von der Organisation fortwährend präsentierten Materials an »Erfolgszahlen« ungemein skeptisch. Die umfassend popularisierten Datenreihen mochten also vielleicht einige Ökonomen, Wirtschaftshistoriker oder Statistiker verzücken, in der zeitgenössischen Öffentlichkeit wurden diese immer häufiger als kommunikative Vernebelungstaktik oder gar als bloße statistische Fiktion abgetan.

Noch bis heute sind es aber neben den überlieferten Zahlen gerade auch die verfestigten Emotionen, die das düstere Bild der Treuhandanstalt vor allem auch in Ostdeutschland bestimmen. Auch im gegenwärtigen Rückblick erweist sich die Organisation für viele ältere Ostdeutsche als Hauptverantwortliche für ungerechtfertigte Abwicklungen, überzogene Massenentlassungen sowie zahlreiche weitere Enttäuschungen im deutsch-deutschen Einigungsprozess. Noch immer wird dieser als feindliche Übernahme des Ostens durch den Westen empfunden. In dieser erinnerungskulturellen Rückschau hat gerade die Treuhand die ostdeutsche Bevölkerung im Interesse westdeutscher Konzerninteressen enteignet. Die Organisation und gerade auch die von ihr zahlreich produzierten Zahlen besitzen damit nach wie vor erhebliche Sprengkraft. Die gegenwärtig beginnende Erschließung und Öffnung der sehr umfangreichen wie komplexen Hinterlassenschaften im Treuhandarchiv bietet nun eine Chance, die noch weitgehend unbekannte Geschichte der Transformationszeit differenziert zu erfassen. Die einsetzenden zeithistorischen Forschungen sollten aber auch einen sehr sensiblen Umgang mit der von der umstrittenen Treuhandanstalt in ihrem Krieg der Zahlen produzierten und popularisierten Statistik pflegen. Letztlich wird man subjektiven Erfahrungen auch heute nicht mit vermeintlich objektiven Zahlen beikommen können.

Dieser Text erschien in der elften Ausgabe von KATAPULT. Ein Sonderheft zum Thema Treuhand mit riesiger A1-Karte finden Sie bei uns im Shop (mit Vorschau).

Fußnoten

  1. Kocka, Jürgen: Vereinigungskrise. Zur Geschichte der Gegenwart, Göttingen 1995.
  2. Seibel, Wolfgang: Verwaltete Illusionen. Die Privatisierung der DDR-Wirtschaft durch die Treuhandanstalt und ihre Nachfolger 1990-2000, Frankfurt/M. 2005, S. 488.
  3. Vgl. o.A.: »Dann ist der Ofen aus«, in: Der Spiegel, (44)1990, H. 44, S. 146-149.

Autor:innen

Ruhr-Universität Bochum

Forschungsschwerpunkte
Transformationen in Europa nach 1989/90
Geschichte von Bundesrepublik und DDR
Wirtschaftsgeschichte und Kulturgeschichte

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