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6 Fakten: Iran

Etwas besser als sein Ruf

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KATAPULT: Der Iran nimmt hinsichtlich seiner Staatsform eine Sonderrolle ein. Zwar gibt es einen Präsidenten (Ruhani), aber das eigentliche Staatsoberhaupt und oberster Religionsführer ist Ajatollah Ali Chamenei. Er lehnt ein gesetzgebendes Parlament nach westlichem Vorbild ab. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Was bedeutet das konkret für die Gesellschaft?

Tabatabai: Es ist nicht richtig, dass der Revolutionsführer ein gesetzgebendes Parlament ablehnt. Das iranische Parlament hat laut Verfassung zunächst genau dieselben Funktionen wie ein Parlament nach westlichem Vorbild:

Es entwickelt und verabschiedet Gesetze (Gesetzgebungsfunktion), es kontrolliert die Regierung in seiner Regierungsarbeit (Kontrollfunktion), es dient der öffentlichen Debatte etwa durch live übertragene Plenarsitzungen (Kommunikationsfunktion) und stimmt unter anderem über vorgeschlagene Kandidaten für Ministerposten ab (Wahlfunktion).

Die Einschränkungen dieser Funktionen sind bedingt durch die Filterung von Kandidaten, die sich als Parlamentarier zur Wahl stellen wollen. Der Wächterrat prüft jeden Kandidaten auf seine Qualifikation und stellt so sicher, dass am Ende ein systemtreues Parlament zusammengestellt wird. Dies bedeutet für die Bürger, dass eine Großzahl der Parlamentarier vor allem ihren Blick auf die politische Elite des Landes richtet und weniger auf die Belange der Wählerschaft.

Hierbei muss aber unterschieden werden, dass dieser Aspekt vor allem auf die Hauptstadt und die vielen Wahlkreise Teherans zutrifft. In vielen weiteren Provinzen des Landes, spielt die große Politik eine geringere Rolle. Hier wird den Belangen der Bevölkerung seitens der Parlamentarier größere Beachtung geschenkt, weil der Kontext weniger politisiert ist.

KATAPULT: Der Iran wird häufig für seine dramatische Menschenrechtslage kritisiert. Einige Quellen gehen davon aus, dass bis Ende 2015 etwa 1.000 Hinrichtungen vollstreckt werden. Gemessen an der Einwohnerzahl wären dies weltweit die meisten staatlich verhängten Tötungen. Welche weiteren Menschenrechtsverletzungen lassen sich darüber hinaus anführen und worin liegen die Ursachen dafür?

Tabatabai: Die Ursache für die schlechte Menschenrechtslage im Iran liegt in seinem autoritären Kontext begründet. Es ist Merkmal autoritärer Staaten, dass sie Bürgerrechten im Vergleich zu Demokratien weniger Beachtung schenken. Wenn wir den Iran mit westlichen Demokratien vergleichen, sehen wir eine starke Einschränkung der Bürgerrechte. Dies betrifft vor allen Dingen die Medien- und Pressefreiheit, die Rechte von Minderheiten sowie die Gleichstellung der Geschlechter.

Gleichzeitig müssen wir jedoch erkennen, dass der Iran im Vergleich zu seinen Nachbarstaaten wesentlich besser dasteht. Die ethnische Vielfalt des Iran spiegelt sich selbst in der politischen Elite wieder: Der Revolutionsführer Ayatollah Khamenei ist ethnischer Azeri. Der Parlamentspräsident Ali Laridjani ist im Irak geboren und selbst der stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrats und ehemalige Verteidigungsminister Ali Shamkhani ist ethnischer Araber.

Sie finden in Teheran, Isfahan und anderen Städten Kirchen und Synagogen. Die jüdische Gemeinschaft im Iran hat etwa 20.000 bis 25.000 Mitglieder und einen eigenen Parlamentsabgeordneten. Den ethnischen Armeniern ist es als Christen gestattet, Alkohol zu trinken. Selbst der Kapitän der iranischen Fußballmannschaft Andranik Teymourian ist ethnischer Armenier und somit Christ.

Wenn sie im Iran das Radio einschalten, werden sie immer wieder kurdische Musik oder Liedgut anderer Minderheiten hören. Dies alles besagt keineswegs, dass es im Iran nicht weiterhin gravierende Menschenrechtsprobleme gibt – jedoch zeigt es uns, dass wir genauer hinschauen müssen und dabei Erstaunliches entdecken können.

KATAPULT: Im Mai dieses Jahres hat der Präsident für Februar 2016 freie Wahlen angekündigt. Wie frei werden diese Wahlen tatsächlich sein und was könnte sich durch einen Wechsel positiv verändern?

Tabatabai: Wie bereits oben beschrieben, wird der Wahlvorgang des Parlaments dadurch eingeschränkt, dass Kandidaten zunächst vom Wächterrat zugelassen werden müssen. Dieser Filterprozess vermag die tatsächliche Auswahl der Kandidaten in einer Weise zu beeinflussen, dass von freien Wahlen nicht die Rede sein kann.

Der tatsächliche Wahlvorgang hinterher – nachdem die Kandidaten gefiltert wurden – findet dann mitunter frei und sauber statt, hatte aber eben einen vorgeschalteten Filtervorgang. Sofern der Wahlausgang ein Parlament aufweist, das Präsident Rouhani und seiner Regierung positiver gesonnen ist als das derzeitige Parlament, kann das dem Präsidenten die Möglichkeit geben, seine innenpolitischen Reformprozesse besser voranzutreiben.

KATAPULT: Der Iran hat Ende November Russland »uneingeschränkte Solidarität« im Kampf gegen den IS zugesagt. Beide fordern, dass Assad bei der Lösung des Syrienkonflikts einbezogen wird. Welche historische Verbindung besteht zwischen dem Iran und Russland und ist die Forderung beider Länder in Bezug auf Assad aus ihrer Sicht sinnvoll?

Tabatabai: Iran und Russland haben nie ein uneingeschränkt vertrauensvolles Verhältnis zueinander gehabt. Die regionalen Interessen beider Länder passen lediglich in einigen Belangen besser zusammen. Hierbei spielen natürlich auch die globale Ordnung und die Hegemonialbestrebungen der USA eine große Rolle. Diesen stellt sich der Iran seit der Revolution 1979 vehement entgegen. Das bringt natürlich die Sympathie Russlands ein.

Gleichzeitig bestehen gemeinsame Sicherheitsinteressen zwischen Iran und Russland. Immerhin ist der Nahe und Mittlere Osten Russlands erweiterte Nachbarregion. Bashar al-Assad hat beide Staaten um Hilfe im Kampf gegen den Terrorismus in Syrien gebeten. Sie sehen hierbei keinen Unterschied zwischen dem IS und den anderen militanten Gruppen, wie es etwa im Westen getan wird. Für die Regierungen in Damaskus, Teheran und Moskau gibt es keine »moderaten Rebellen«.

Ich halte den Ansatz Moskaus und Teherans, dass eine Lösung des Syrienkonflikts zunächst mit Assad gesucht werden muss, für den richtigen Weg.

Ich halte den Ansatz Moskaus und Teherans, dass eine Lösung des Syrienkonflikts zunächst mit Assad gesucht werden muss, für den richtigen Weg. Man wird das syrische Militär brauchen, um den IS und andere Terrororganisationen im Land zu bekämpfen. Zudem muss man Assad dazu bewegen können, einen Waffenstillstand zu vereinbaren. Für die Prozesse nach einem möglichen Waffenstillstand jedoch, müssen Teheran und Moskau die Option akzeptieren, dass Assad einen Transformationsprozess womöglich nicht als Präsident übersteht und sein Amt niederlegen muss. Aber auch das muss in Form eines vernünftigen politischen Prozesses erfolgen und kann nicht einfach von externen Akteuren beschlossen werden.

KATAPULT: In Libyen hat der IS bereits Teile des Landes eingenommen. Besteht die Gefahr, dass der IS auch im Iran an Einfluss gewinnt?

Tabatabai: Da der Iran zu weit über 90 Prozent schiitisch ist, wird der IS nicht versuchen, in das Land einzumarschieren. Er rechnet dort mit keinem Zulauf. Dies ist in den fragilen Kontexten wie Libyen, Irak, Syrien, Jemen oder Afghanistan natürlich anders. Deswegen ist die Gruppe dort auch so erfolgreich. Sie profitiert von der fürchterlichen Sicherheitslage.

Diese Situation findet man im Iran nicht vor. Das sehen wir zum Beispiel daran, dass es keine erwähnenswerten Überläufer sunnitischer Iraner zum IS etwa im Irak gibt – zumindest sind mir keine Zahlen diesbezüglich bekannt. Ich rechne daher nicht damit, dass sich der IS in Richtung Iran vorwagt.

KATAPULT: Israel wirft dem Iran seit Jahren vor, dass es sich durch dessen Atombomben unmittelbar bedroht fühlt. Netanyahu präsentierte 2012 vor einer UN-Vollversammlung sogar den Fortschritt der Produktion. Anfang dieses Jahres stellte sich heraus, dass der Iran technisch noch gar nicht in der Lage ist, ausreichend Uran anzureichern. Wo liegen die Ursachen für diesen Konflikt und welche Absicht seitens Israels verbirgt sich dahinter?

Tabatabai: Die Islamische Republik Iran erkennt Israel als Staat nicht an. Das ist Teil seiner Staatsräson. Begründet wird dies damit, dass das, »Staatsgebilde Israel« palästinensisches (und somit muslimisches) Land geraubt und seitdem besetzt hat. Diese unversöhnliche Position bietet natürlich wenig bis gar keinen Spielraum für Beziehungen zwischen beiden Ländern.

Sowohl Israel als auch der Iran nutzen diese Feindschaft natürlich für politische Zwecke, spielen sie hoch und dramatisieren das Ausmaß sogar zwischenzeitlich. Dem Iran käme es nie in den Sinn, Israel militärisch anzugreifen. Gleichzeitig stellt er durch die Präsenz der Hisbollah im Südlibanon sicher, dass sich Israel keinen Militärschlag gegen den Iran erlaubt, da sonst vom Libanon aus Angriffe auf Israel gestartet werden könnten.

Ich sehe, entgegen aller Rhetorik der vergangenen Jahre, keinen Krieg zwischen beiden Ländern aufkommen. Und selbst amtierende und ehemalige Sicherheitschefs in Israel (des Shin Bet als auch des Mossad) haben öffentlich gesagt, dass Iran keine existenzielle Bedrohung für Israel darstellt. Das ist eher ein Spielball der Regierung Benjamin Netanyahus.

Das Interview führte Sarah Podszuck.

Fußnoten

  1. Teil des politischen Systems des Iran mit besonderer Bedeutung. Der Wächterrat besteht aus zwölf Sitzen, die zur Hälfte von Geistlichen und zur Hälfte von Juristen gestellt wird.
  2. Person mit aserbaidschanischer Nationalität/Herkunft.
  3. Damit ist die Verfolgung eigener Interessen in verschiedenen Regionen weltweit gemeint.
  4. Ist eine schiitische Partei aber auch eine mit millitärischen Mitteln ausgestattete Gruppierung im Libanon. Israel stuft die Hisbollah als Terrororganisation ein.

Autor:innen

Schwerpunkte
Diffusionsforschung
Arabischer Frühling

Geschäftsführer des Center for Applied Research in Partnership with the Orient (CARPO)

Forschungsschwerpunkte
Iran
Staats-und Gesellschaftsbeziehungen
Machtdynamiken

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