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Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie

Ein Pfund Hack für 2,39 Euro und einen Finger

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Schlachthof Kellinghusen, Schleswig-Holstein. Der rumänische Arbeiter George B. trennt mit einer Zange Schweineköpfe ab und einmal auch vier seiner eigenen Finger. Nur drei können gerettet werden. Seine Erklärung: Er habe mehrere Stunden am Schlachtband gearbeitet, seine Zange funktionierte nicht richtig. Das habe zu Streit mit seinem Vorarbeiter und schließlich zum Unfall geführt. Sein Arbeitgeber, ein Subunternehmen, und der Fleischkonzern Tönnies bestätigen zwar den Zwischenfall. B. sei aber selbst schuld, weil er die Zange unsachgemäß verwendet habe. Der NDR berichtet und legt der staatlichen Arbeitsschutzbehörde ein Video vor, das einen Arbeiter an B.s Position zeigt. Dieser Arbeitsplatz entspreche “in keiner Weise den Anforderungen der Gesetze und Vorschriften im Arbeitsschutz", heißt es vonseiten der Behörde. Tönnies widerspricht.

Große Fleischbetriebe: Ohne Werkverträge kein Wachstum

Dieser Fall, der im August 2018 durch die Medien ging, steht stellvertretend für die Kritik, die die Fleischwirtschaft seit Jahren trifft: Missbrauch von Werkverträgen zulasten von Arbeitern aus Osteuropa, Arbeitszeitüberschreitungen, zu geringe Bezahlung und unmenschliche Wohnverhältnisse – systematische Ausbeutung eben. Der Name Tönnies fällt dabei oft, und zugleich ist das Unternehmen der größte Schlachtbetrieb Deutschlands. Tönnies liefert täglich 750 Tonnen Fleisch aus, verfügt über 16.500 Angestellte in sieben Ländern und hat im Jahr 2018 rund 6,5 Milliarden Euro Umsatz gemacht. “Ohne Werkvertragsarbeiter wäre das Wachstum der vergangenen Jahre aber niemals möglich gewesen”, heißt es auf der Unternehmenshomepage. Aber unter welchen Bedingungen arbeiten jene dort überhaupt?

Die deutsche Fleischwirtschaft lebt vom Werkvertragssystem. Das heißt: Die Unternehmen vergeben Aufträge - beispielsweise zur Schlachtung - an Subunternehmen, die meist im Ausland sitzen. Diese engagieren Personal, das die Aufträge zwar in Deutschland ausführt, aber nicht nach deutschem Arbeitsrecht angestellt ist. Für den Fleischproduzenten zahlt sich das aus: Erstens entgeht er so meist den Tariflöhnen und muss weniger Geld ausgeben. Und zweitens kann er die Arbeitskräfte leichter wieder loswerden. Dazu kommt, dass durch diese Organisationsebenen kaum kontrolliert werden kann, ob arbeitsrechtliche Auflagen eingehalten werden. Gewerkschaften kritisieren immer wieder, dass sich die Arbeitskräfte nicht gemeinsam gegen die Bedingungen organisieren wollen oder könnten, denn ein Werkvertrag läuft immer nur über einen begrenzten Zeitraum.

Offizielle Erhebungen zur Zahl der Angestellten auf Werkvertragsbasis in der Fleischindustrie gibt es aber nicht. Tönnies selbst erklärt, dass 50 Prozent seiner Arbeitskräfte bei Werkvertragspartnern angestellt seien. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten schätzt jedoch, dass der Anteil bei den vier größten Schlachtkonzernen – dazu gehören neben Tönnies auch Westfleisch, Vion und Danish Crown – größer ist. Anfang 2016 soll er bei rund zwei Dritteln der Gesamtbelegschaften gelegen haben. Tönnies selbst rechtfertigte das Anstellungsverhältnis im Jahr 2014 so: „Das System Werkverträge zu verteufeln, würde uns das Genick brechen.“ Es gebe nicht genügend qualifizierte deutsche Arbeitskräfte, weshalb der Betrieb auf Personal aus Rumänien, Bulgarien und Polen angewiesen sei.

Der Sozialpolitische Ausschuss der Fleischwirtschaft kritisiert, dass die Medien die Industrie zu negativ darstellten, und hält dagegen: Mit Kritikern gebe es einen regen Austausch. Zudem würden bereits erhobene Zahlen beweisen, dass es kein systematisches Fehlverhalten in der Fleischwirtschaft gebe. Darüber hinaus betont der Verein, Arbeitnehmer aus osteuropäischen Ländern seien mittlerweile zu deutschen Bedingungen eingestellt und würden eine Bezahlung erhalten, die sogar über dem Mindestlohn liege. Auch die Firmen selbst wehren sich aktiv gegen das schlechte Image und unterschrieben im Jahr 2015 freiwillig einen Verhaltenskodex. Diesem schlossen sich 23 Unternehmen beziehungsweise Unternehmensgruppen mit 100 Betrieben an. In der Folge sind die osteuropäischen Subunternehmen in deutsche GmbHs umgewandelt worden. Die Beschäftigten unterliegen demnach dem deutschen Arbeits- und Sozialversicherungsrecht und erhalten beispielsweise auch Lohn, wenn sie krank sind. Soweit jedenfalls die Theorie.

Unternehmen umgehen Mindestlohn

Gewerkschaften wie NGG und die Beratungsstelle Faire Mobilität bezweifeln die positive Darstellung. Den Mindestlohn gebe es in der Fleischindustrie vor allem auf dem Papier. Denn Überstundenregelungen könnten leicht umgangen werden, zudem würden Arbeitsmaterialien wie Schlachtermesser vom Monatslohn abgezogen. Das Gehalt wird so zusätzlich nach unten gedrückt. Erst seit 2014 gibt es einen Mindestlohn in der Branche, nachdem sich Belgien, Frankreich und Österreich bei der EU-Kommission über Deutschlands Wettbewerbsvorteil durch Arbeitskräfte aus Mittel- und Osteuropa und deren Dumpinglöhne beschwert hatten. Vorher soll der Stundenlohn bei drei bis fünf Euro gelegen haben.

Auch die Politik hat auf die Zustände in der Fleischwirtschaft reagiert. Seit 2017 – also nur wenige Jahre nach der Selbstverpflichtung der Industrie – gibt es das Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft (GSA Fleisch), das vor allem die Situation der Arbeiter aus Osteuropa verbessern soll. So dürfen diese zwar weiterhin über Subunternehmer in den Betrieben angestellt werden, die Verantwortung trügen aber die Auftraggeber, also beispielsweise Tönnies. Die Unternehmen müssen Lohnverstöße prüfen, Arbeitszeiten aufzeichnen und dürfen keine Arbeitsmittel mehr vom Gehalt abziehen. Andernfalls drohen Geldbußen von bis zu 50.000 Euro. Doch inwiefern das Gesetz zu besseren Arbeitsbedingungen geführt hat, kann selbst die Bundesregierung nicht einschätzen: Ob beispielsweise die Auszahlung in polnischen Zloty durch die Subunternehmer korrekt ist, wird statistisch nicht erfasst – und folglich auch nicht überprüft.

Am Werkvertragssystem ändert das Gesetz praktisch also nicht viel. Eine andere Lösung böte ein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag für die Fleischbranche, schlägt Claudia Weinkopf vom Institut Arbeit und Qualifikation an der Universität Duisburg-Essen vor. Bisher denken nur wenige Unternehmen freiwillig selbst über Tariflöhne nach: Vion und Westfleisch arbeiten mit tarifgebundenen Hausverträgen, bei Tönnies gibt es Tarifverträge “nur bei kleineren zugekauften Standorten, die bereits zuvor eine tarifliche Bindung hatten”. Dass diese die Situation osteuropäischer Arbeiter positiv beeinflussen können, zeigt laut Weinkopf ein Blick nach Dänemark. Dort verdienen die Arbeiter in der Fleischwirtschaft etwa 25 Euro pro Stunde, haben höhere Rentenansprüche und bekommen Zuschläge für Überstunden und Nachtarbeit. Auch die ausländischen Beschäftigten organisieren sich dort gewerkschaftlich.

Arbeitsunfälle, Gewalt und unzumutbare Unterkünfte

Wie verteidigt sich ein Fleischkonzern wie Tönnies gegen die Vorwürfe systematischer Ausbeutung? Auf seiner Website heißt es, die Bezahlung der Arbeiter erfolge nach deutschem Arbeitsrecht, ob Nachtzuschläge und Überstunden ausgezahlt würden, werde kontrolliert und der Mindestlohn eingehalten. Außerdem unterstütze man die Mitarbeiter, informiere sie über Kultur- und Sportangebote und biete Hilfestellung bei Behördengängen. Dafür seien, so Tönnies, gemeinsam mit “lokaler Politik, Behörden und Vereinen vor Ort” bereits zahlreiche Initiativen und Maßnahmen neu geschaffen worden. Künftig will Tönnies an drei Standorten Unterkünfte errichten und diese auch an Werkvertragsarbeiter vermieten.

Durch die öffentliche Berichterstattung bekannt gewordene Fälle zeichnen jedoch ein anderes Bild. Laut Mitteldeutscher Zeitung starb 2017 ein Arbeiter am Fließband, im Herbst 2019 strengte Tönnies einen Rechtsstreit mit dem Verein Arbeitsunrecht an und ließ durch einen Medienanwalt kritische Berichterstattung zensieren. Aktionsgruppen wie Tear Down Tönnies legten laut taz durch eine Demonstration den Betrieb lahm. Der MDR berichtet außerdem über zwei Tönnies-Arbeiter aus Polen. Sie hätten im Schlachthof körperliche Gewalt erfahren, der Mindestlohn werde nicht eingehalten und Überstunden nicht ausbezahlt.

Auch der Abschlussbericht der nordrhein-westfälischen Arbeitsschutzverwaltung lässt darauf schließen, dass das Arbeitsrecht in der Fleischindustrie keine große Rolle spielt. Das Ministerium hatte im Jahr 2019 eine Überwachungsaktion initiiert und 30 Großbetriebe überprüft. Ergebnis: In allen Betrieben gab es Mängel, in 85 Prozent davon waren sie sogar gravierend: 5.863 Verstöße in Bezug auf Arbeitszeit, 2.481 in Bezug auf arbeitsmedizinische Vorsorge, 296 in Bezug auf technischen Arbeitsschutz. Wie der eingangs erwähnte Fall von George B. ausging, ist unklar. Der damaligen Berichterstatterin des NDR zufolge ist er mittlerweile wieder in Rumänien.

In der Coronakrise fordert der Bayerische Fleischerverband Lockerungen bei der Arbeitszeitregelung, 450-Euro-Kräften und Sonntagsarbeit. Eine Einreise ist für viele Arbeitskräfte nur noch mit Sondergenehmigung möglich. Auch Tönnies gilt als systemrelevantes Unternehmen. Die Nachfrage sei im um ein Drittel gestiegen, heißt es. Lieferengpässe gebe es aber keine, die meisten Schlachttiere kommen aus Deutschland. Doch wenn die Mitarbeiter wegbleiben, bekommt das Unternehmen Probleme. So sagt der Miteigentümer Clemens Tönnies selbst: „Wenn unsere Osteuropäer auf Heimatbesuch fahren, dort aber in zwei Wochen in Zwangsquarantäne müssen oder nicht mehr nach Deutschland einreisen dürften, dann stehen bei uns bald die Räder still.“ Wissenschaftliche Erkenntnisse und Medienberichte zeigen: Das ist nicht erst seit der Coronakrise ein Problem. Die Fleischindustrie lebt von der Arbeit rechtlich wenig abgesicherter Menschen.

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Fußnoten

  1. Niemeyer, Annette: Schwerer Unfall im Schlachthof Kellinghusen, auf: ndr.de (18.2.2019).
  2. Tönnies (Hg.): Stellungnahme zur Berichterstattung des NDR, auf: toennies.de (18.4.2019).
  3. Tönnies (Hg.): Offene Diskussion um verantwortungsvolle Arbeit, auf: toennies.de (2.10.2018).
  4. Tönnies (Hg.): Werkverträge bei Tönnies, auf: toennies.de (ohne Datum).
  5. Wyputta, Andreas: Ausbeutung am laufenden Band, auf: taz.de (24.5.2016).
  6. Handelsblatt (Hg.): Tönnies verteidigt Werkverträge, auf: handelsblatt.com (7.2.2019).
  7. Goebels, Wilfried: Tönnies droht, ohne Werkverträge würden Jobs wegfallen, auf: waz.de (7.2.2014).
  8. Sozialpolitischer Ausschuss der Fleischwirtschaft (Hg.): Standortoffensive deutscher Unternehmen der Fleischwirtschaft, 2. Bericht, o. O. 2017, S. 10.
  9. Weinkopf, Claudia; Hüttenhoff, Frederic: Der Mindestlohn in der Fleischwirtschaft, in: Forschung aktuell WSI Mitteilungen, (7)2017 o.O., S. 533-539, hier: S. 533.
  10. Deutscher Bundestag 19. Wahlperiode (Hg.): Drucksache 19/6323, auf: dip21.bundestag.de (4.12.2018), S. 9.
  11. Weinkopf, Claudia: Arbeitsbedingungen in der Fleischwirtschaft im Vergleich, in: Zeitschrift für Arbeitswissenschaft (72)2018 o.O, H. 3, S. 213-216, hier: S. 215.
  12. Weinkopf; Hüttenhoff 2017, S. 535.
  13. Weinkopf 2018, S. 214.
  14. Tönnies (Hg.): Unsere Verantwortung für Mitarbeiter und Standorte, auf: toennies.de (ohne Datum).
  15. Mitteldeutsche Zeitung: Arbeiter (47) stirbt in Weißenfelser Zerlegebetrieb, auf: mz-web.de (16.6.2017).
  16. Aktion arbeitsunrecht (Hg.): Tönnies Fleischverarbeitung, auf: aktion.arbeitsunrecht.de (ohne Datum).
  17. Götz, Alina: Schweine im Stillstand, auf: taz.de (22.10.2019).
  18. MDR (Hg.): Schwere Vorwürfe gegen Schlachthof in Weißenfels - Unternehmen wehrt sich, auf: mdr.de (6.9.2019).
  19. Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Überwachungsaktion. »Faire Arbeit in der Fleischindustrie«. Abschlussbericht, auf: landtag.nrw.de, Düsseldorf 2019.
  20. Kontakt mit Annette Niemeyer per E-Mail am 26.2.2020.
  21. Terpitz, Katrin: Fleischproduzent Tönnies bangt um seine osteuropäischen Arbeiter, auf: handelsblatt.de (29.3.2020).
  22. Wirtschaft.com (Hg.): Fleischproduzent Tönnies kritisiert Einreisestopp für Osteuropäer, auf: wirtschaft.com (29.3.2020).

Autor:innen

Seit 2019 bei KATAPULT, seit 2020 Onlinechefin. Vor allem für die Berichterstattung über sozialpolitische Themen zuständig.

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