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Wettbewerbsanalyse

Der Kampf ums gelingende Leben

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Kaum jemand wird heute bestreiten, dass wir in einer Wettbewerbsgesellschaft leben, die viele Bereiche unseres Lebens zunehmend durchdringt. Die Allgegenwart von Praktiken und Diskursen von Konkurrenz machen diese für eine kritische Soziologie erklärungsbedürftig. Lange Zeit hat sich die Soziologie nicht ausdrücklich mit den Fragen des Wettbewerbs und der Konkurrenz und auch nicht mit Fragen einer gelingenden Lebensführung auseinandergesetzt, sondern diese im ersten Fall an die Ökonomie und im zweiten Fall an die Philosophie verwiesen.

Aus der Sicht einer kritischen Soziologie verbindet sich damit ein doppeltes Unbehagen, da Themen wie »Konkurrenz« und »Wettbewerb« sicherlich ökonomisch relevant sind, sich jedoch nicht auf Ökonomie reduzieren lassen. Ebenso verhält es sich mit der herkömmlich der Philosophie zugeschriebenen Diskussion der ethisch-politischen Fragen nach einem gelingenden oder guten Leben.

Beide Bereiche, so hat der Verfasser in seiner Habilitationsschrift »Soziologie des Wettbewerbs« und in weiteren Arbeiten zu zeigen versucht, müssen – normativ gesprochen – aus einer eindeutig soziologischen Perspektive behandelt werden. Dadurch kann sowohl über die Mechanismen, die Bedeutsamkeit und die theoretischen Positionen bezüglich Wettbewerb sowie Konkurrenz aufgeklärt werden. Im Anschluss daran können Bausteine und Perspektiven einer gelingenden Lebensführung skizziert werden.

Wettbewerb ist nicht gleich Wettbewerb

Klassische Soziologen wie Georg Simmel und Pierre Bourdieu, aber auch zeitgenössische wie Frank Nullmeier oder Pascal Duret, bieten Anknüpfungspunkte für eine Neufassung der Wettbewerbssoziologie. Das Ziel einer soziologischen Arbeit zum Wettbewerb besteht aus einer sowohl sozialtheoretisch begründeten als auch empirisch orientierten Feldanalyse des Wettbewerbs.

»Wettbewerb« bezieht sich zum einen auf »institutionelle (Markt-)Ordnungen«, zum anderen auf eine als »sozialkomparative Handlungsorientierung zu begreifende Konkurrenz«. Dabei vergleichen sich Individuen, um im Wettbewerb mit- und gegeneinander bestehen zu können.

Die Feldanalysen gipfeln in der Zuordnung zu verschiedenen Wettbewerbskulturen: Beim (1) »Positionalen Wettbewerb« geht es um einen auf Vergleichen beruhenden Wettbewerb, der Konkurrenten zusammenbringt. Hier gibt es nur einen Sieger, es greift also das sogenannte »The winner takes it all«-Prinzip (Beispiel: Beim Besetzen einer Stelle kommt genau eine Kandidatin zum Zuge).

Der (2) »(Hyper-)Agonale4 Wettbewerb« kann zu einer Vernichtung der aggressiv Konkurrierenden führen. Es gibt nur – darin ist er mit dem positionalen Wettbewerb vergleichbar – einen Gewinner, allerdings sollen zudem Mitkonkurrenten besiegt, also beispielsweise vom Markt gedrängt werden (Beispiel: feindliche Übernahmen).

Bei dem durch Gewalt organisierten, (3) »Relationsfixierenden/ differenzminimierenden Wettbewerb« verläuft das Wettbewerbsgeschehen kooperativ und fair. Dennoch ist auch dieser Wettbewerb platzzuweisend (Beispiel: die Diskussionsrunde oder der Ideenwettbewerb um das bessere Argument).

Auch beim (4) »Differenzbetonenden Wettbewerb« verläuft der Konkurrenzkampf gewaltlos. Als Ergebnis des Wettbewerbs kommt es zu Platzierungen (Beispiel: das Wettrennen im Sport). Aus den vorgestellten Feldanalysen und den theoretischen Schlüssen ergibt sich eine komplexe soziologische »Grammatik des Wettbewerbs«. Gewonnen wird diese durch den Vergleich der einzelnen Felder.

Der Optimierungswahn

Normativ aufgeworfene Fragen des guten und gelingenden Lebens beziehungsweise nach einer gelingenden Lebensführung zählten bislang nicht zu den Hauptinteressengebieten soziologischer Forschung. Die in einer »Soziologie des Wettbewerbs« durchgeführten Rekonstruktionen zeigen, dass es im Sinne einer Diagnose der Gegenwartsgesellschaft nicht so sehr um eine Ökonomisierung des Sozialen oder um die Ausbreitung der Geldgesellschaft auf verschiedene gesellschaftliche Sphären geht.

Vielmehr wird eine fortschreitende »Verwettbewerblichung der Gesellschaft« in unterschiedlichen Facetten festgestellt, wie dies anhand der analytischen Durchdringung der ausgewählten vier Felder (Ökonomie, Bildung, Sport und Liebe) beispielhaft aufgezeigt wird.

Diese Verwettbewerblichung verlässt die herkömmlichen, ökonomisch eingeschliffenen Bahnen, wenn sich kein marktwirtschaftlich organisierter (unternehmerischer) Wettbewerb ergibt, sondern Wettbewerbe installiert werden, denen ein klares Ziel fehlt und die sich auf nicht-ökonomische Bereiche ausdehnen. Immer dann, wenn der Wettbewerb vom Mittel zu einer finalen Zielstrategie wird, erhält er in den vier Feldern eine problematische, mitunter kontraproduktive Dynamik.

Von verschiedener Seite wird die Verfestigung einer Wettbewerbsideologie bereits als ein teilweise »perverses Anreizsystem« beschrieben.

Darüber hinaus dienen Wettbewerbe häufig einer – nicht selten von Seiten der politisch-ökonomischen Eliten propagierten – Legitimationsstrategie. Wo gesellschaftlich etwas nicht optimal und effizient läuft, ist der Ruf nach »mehr Wettbewerb« nicht fern. Daraus entstehen allerdings Wirkungen und Effekte, die – einmal installiert – nur schwer zu kontrollieren sind. Von verschiedener Seite wird die Verfestigung einer Wettbewerbsideologie bereits als ein teilweise »perverses Anreizsystem« beschrieben.

Dass diese Zuschreibung im Sinne einer Verfestigung im Diskurs überhaupt gelingen konnte, verdeutlicht die performative Dimension der Wettbewerbsrhetorik, die darin besteht, dass sich der Wettbewerb auch über sprachliche Praktiken in der gesellschaftlichen Wirklichkeit festsetzt. Mit anderen Worten: Je mehr von Wettbewerb auf unterschiedlichen Ebenen gesprochen und geschrieben wird, desto mehr setzen sich die damit verbundenen Mechanismen und politischen Ansichten innerhalb der verschiedenen Felder und Diskurse des Wettbewerbs durch.

Bausteine gelingender Lebensführung

Wie kann eine gelingende Lebensführung unter der eben aufgezeigten Verschärfung der Wettbewerbs- und Konkurrenzsituation aussehen? Ein Ziel weiterer Forschungen wird es sein, verschiedene Bausteine zu identifizieren, die einen Beitrag zu einer gelingenden Lebensführung leisten können. Die faszinierende Thematik »Liebe und intime Beziehungen« ist dabei ein solcher Baustein, der für die allermeisten Menschen von enormer Bedeutung ist, um ihr Leben zufriedener und glücklicher, also insgesamt gelungener gestalten zu können.

Gutes Leben trotz Kapitalismus?

(1) Ein Blick auf die Funktionsweise der Wettbewerbe berührt unweigerlich Fragen der Lebensführung, die sich in drei gewählten Dimensionen der Analyse widerspiegeln. So wird durch die öffentliche und mediale Verbreitung von Wettbewerbsrhetoriken und -praktiken auf der Ebene der Individuen suggeriert, dass alleine der eigene Wille maßgeblich für den Erfolg sei.

Als Leitbild dient der auf Eigennutz und Optimierung ausgerichtete und rein durch den eigenen Willen sich bestimmen lassende Mensch, der sich in den soziologischen Figuren des »Arbeitskraftunternehmers« und des »Selbstunternehmers« niederschlägt. Während die Idee des Arbeitskraftunternehmers die Tatsache betont, dass der moderne Mensch seine Arbeitskraft vollumfänglich in den Dienst eines Unternehmens oder einer Institution stellt, zeichnet sich der Selbstunternehmer dadurch aus, dass dieser sein ganzes Leben wie ein Unternehmen zu führen versucht.

Damit findet eine Verengung im Hinblick auf die Möglichkeiten einer gelingenden Lebensführung statt, die es in neoliberalen Zeiten schwermacht, überhaupt alternative Lebensweisen aufscheinen zu lassen. Wer sich der Wettbewerbs- und der Steigerungslogik im Kapitalismus entziehen will, muss sich dies leisten können, also über ausreichend Kapital verfügen - vor allem ökonomisches, aber auch kulturelles und soziales.

Aus der Sicht der Anforderungen, die an Menschen in heutigen Gesellschaften gestellt werden, könnte ein (sozialpolitisches) Ziel gelingender Lebensführung darin bestehen, sozio-kulturelle Bedingungen eines »guten Lebens« auf der politischen und sozialen Ebene zu gewährleisten.

Beispielsweise könnten neue Gemeinschafts- und Kooperationsformen auf lokaler Ebene eingerichtet werden, die neue Erfahrungs- und Lebensräume für Menschen unterschiedlicher Herkunft und ganz verschiedener Altersgruppen ermöglichen. Nicht zuletzt, um den Menschen »Resonanzerfahrungen« jenseits einer Wettbewerbslogik zu eröffnen sowie den »Verlierern« der Wettbewerbe neue Partizipationschancen zu ermöglichen.

Eine neue Form der Wertschätzung

(2) Das Durchdringen der verschiedenen Formen der Wettbewerbe wirkt sich deutlich auf die Formen der Wertschätzung und Anerkennung in sozialen Beziehungen aus. Umstritten ist, wie sich eine Anerkennungskultur mit einem Leistungsbegriff verträgt, der an Legitimation und Erklärungskraft in der Gesellschaft verliert. Auf der Ebene von Institutionen und Märkten birgt der Einsatz neuer Managementphilosophien jedoch die Gefahr, dass Anerkennung auf der Ebene sozialer Beziehungen instrumentalisiert wird.

Anerkennung wird für eine erbrachte Leistung gegeben, die sich sozial als Erfolg darstellen lässt. In vielen Bereichen ist diese Leistung nicht mehr eindeutig zuzuordnen und auch nicht messbar. Das bedeutet im konkreten Fall, dass die Fiktion der Bezahlung und Anerkennungsverteilung nach Leistung nicht mehr automatisch nach verbindlichen Standards funktioniert und zudem dem Anerkennung-Gebenden einen souveränen (Macht-)Status gewährt.

Auf der »Ebene des Institutionellen« sehen sich Universitäten, Banken, Onlineplattformen und Sportverbände als Reaktion auf den verschärften, globalisierten Wettbewerb gezwungen, ihre Geschäftssysteme umzubauen. Sie müssen Restrukturierung und Innovation, Kostenoptimierung und Wachstum sinnvoll miteinander verknüpfen. Dabei lautet eines der zentralen Schlüsselworte »Transformation«.

Ein erstrebenswertes Gut im Sinne einer gelingenden Lebensführung könnte auf dieser Ebene sein, sich so zu organisieren, dass ein Bestehen im sozialen Feld oder am Markt wahrscheinlich wird. Zudem könnten die dadurch entstehenden Unsicherheiten über Steuerungs- und Kompetenzinszenierung bewältigt werden. Hinzu käme das Etablieren von Wertschätzungsmustern im Rahmen der Unternehmenskultur.

Als Ziele im Sinne einer gelingenden Lebensführung könnten hier dementsprechend »Unsicherheitsminimierung« und das »Etablieren von nicht nur ökonomischen Anerkennungskulturen« dienen. Zum Beispiel könnte mehr Sicherheit auf der Ebene der Lebensführung dadurch entstehen, dass vermehrt über Kooperation und soziale Austauschbeziehungen neue Gemeinschaften erzeugt werden. Diese neuen Gemeinschaften jenseits einer klassischen Marktwirtschaft könnten neue Formen der Wertschätzung und Anerkennung etablieren.

Jeder bekommt, was er verdient

(3) Auf der »gesellschaftlichen Ebene« verursacht der dominante internationale Wettbewerbsdiskurs eine Dynamisierung der Anerkennung- und Reputationsverhältnisse, was wiederum Phänomene der Destabilisierung und der (Re-)Stabilisierung hervorruft. Damit ist gemeint, dass Anerkennung und Reputation nicht mehr länger dauerhaft vergeben werden, sondern immer wieder neu erworben werden müssen.

Das soziale Gefüge wird dadurch durchlässiger, aber eben auch anfälliger für Veränderungen. Das Versprechen des Wettbewerbs hat in einer auf Verdienst und Leistung basierenden Gesellschaft klassisch immer darin bestanden, für eine möglichst effiziente (und gerechte) Verteilung der Güter und für eine wohlbegründete Positionierung der Menschen in der Gesellschaftshierarchie zu sorgen.

Dadurch sollte jeder in der Gesellschaft seinen Platz zugewiesen bekommen - nicht willkürlich oder über Beziehungen, sondern den Prinzipien der (Verteilungs-)Gerechtigkeit folgend. Die dahinter verborgenen Prinzipien der Chancengleichheit, der Fairness und gleicher Startbedingungen werden aber selbst durch negative Auswüchse der Konkurrenz untergraben.

Dabei kann ein ganzes soziales Feld, wie beispielsweise der Leistungssport durch unlautere Dopingpraktiken, infrage gestellt werden. Verallgemeinert und normativ gesprochen, müssten Wettbewerbskulturen und Lebensführung sich so verbinden, dass in den verschiedenen diskutierten Feldern »Stabilität«, »Zuverlässigkeit« und »Transparenz« für sozial integrative und positive Momente in (post-)modernen Zeiten sorgen können.

Fußnoten

  1. Wetzel, Dietmar J.: Soziologie des Wettbewerbs. Eine kultur- und wirtschaftssoziologische Studie zur Marktgesellschaft, Wiesbaden 2013. (Reihe »Wirtschaft und Gesellschaft«)
  2. Empirie ist eine aus praktisch-wissenschaftlichen Erfahrungen gewonnene Erkenntnis.
  3. Vgl. Nullmeier, Frank: Politische Theorie des Wohlfahrtsstaats, Frankfurt a. M./New York 2000.
  4. »Agonal« bedeutet kämpferisch, »hyperagonal« ist eine extreme Steigerung dieses Adjektivs.
  5. Der Begriff der Verwettbewerblichung versucht zu erfassen, dass immer mehr Bereiche der Gesellschaft dem Zugriff und den Mechanismen des Wettbewerbs ausgesetzt sind.
  6. Binswanger, Mathias: Sinnlose Wettbewerbe. Warum wir immer mehr Unsinn produzieren, Freiburg/Basel/Wien 2010.
  7. Performativ meint, eine mit einer sprachlichen Äußerung beschriebene Handlung zugleich zu vollziehen.
  8. Vgl. Wetzel, Dietmar J.: Auf der Suche nach Resonanz und Anerkennung - eine ethnografische Analyse moderner Subjektivierungsverhältnisse im Fitness-Studio, Jena 2014b. (Working Paper 06/2014 der DFG-KollegforscherInnengruppe Postwachstumsgesellschaften, FSU Jena)

Autor:innen

Privatdozent an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Projektkoordinator an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Forschungsschwerpunkte
Wirtschafts- und Kultursoziologie
Liebes- und Beziehungssoziologie
Sicherheitsethik und Gerechtigkeitssoziologie

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