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Sexarbeit

Anschaffen abschaffen?

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Bei einer bundesweiten Razzia gegen Zwangsprostitution im April 2018 befreite die Polizei hunderte Personen, die zur Sexarbeit genötigt worden waren. Über 100 Verdächtige wurden vorläufig festgenommen. Damit schien sich ein Bild zu bestätigen, dass auch Medien häufig zeichnen: Deutschland sei ein Paradies der Schleuserbanden. Zwangsprostitution und Menschenhandel gelten als typische Begleiterscheinungen von Sexarbeit. Zahlreiche Politiker, Kirchen und zivilgesellschaftliche Verbände fordern deshalb seit vielen Jahren ein generelles Verbot.

Als Vorbild dienen einige skandinavische Staaten, insbesondere Schweden. Dort ist Sex für Geld seit 1999 untersagt. Unter Strafe steht aber nicht das Anbieten sexueller Dienstleistungen, sondern deren Erwerb. Die Sanktionierung der Freier soll nicht nur die Prostitution zurückdrängen, sondern sie soll auch Frauen aus ihrer prekären Lage befreien. Die schwedische Regierung wirbt dafür, diesen als »Nordisches Modell« bezeichneten Ansatz auf ganz Europa auszuweiten. Im Jahr 2014 empfahl die Europäische Union ihren Mitgliedstaaten schließlich, dem skandinavischen Beispiel zu folgen. Nach Großbritannien und Irland erließ 2016 auch Frankreich ein Prostitutionsverbot, das Geldbußen für den Kauf von Sex vorsieht.

Kampf um Zahlen, Begriffe und moralische Überzeugungen

Doch Prostitution ist ein komplexes Politikfeld, in dem nicht zuletzt um grundlegende Moralvorstellungen einer Gesellschaft gerungen wird. Verlässliche Daten gibt es kaum. So kann niemand sicher sagen, wieviele Personen diesem Gewerbe in Deutschland tatsächlich nachgehen. Die von Verbotsbefürwortern häufig zitierten 400.000 oder gar 700.000 Prostituierten bewerten Behörden und Beratungsorganisationen als deutlich übertrieben. Ihre Schätzungen gehen von 100.000 bis maximal 200.000 Menschen aus. Den überwiegenden Teil davon stellen Frauen.

Selbst die Begriffe sind umkämpft, denn sie bestimmen darüber, wie eine Problematik öffentlich verhandelt wird: Prostitution oder Sexarbeit? Ausbeutung oder freie Berufswahl? Gibt es tatsächlich Frauen, die sich reflektiert und selbstbestimmt für Sexarbeit entscheiden? Häufig, so meinen Kritiker, seien ökonomische Zwänge der Auslöser: Miete, Essen und Unterhalt der Kinder müssen bezahlt werden. Viele Frauen geraten aufgrund finanzieller Schwierigkeiten nach einer Trennung in die Prostitution. Mitunter werden sie unmittelbar von Verwandten oder dem Partner ausgebeutet. Radikale Feministen wie die »Emma«-Herausgeberin Alice Schwarzer urteilen: Die mehrheitlich weiblichen Prostituierten würden zu Objekten von Befriedigung und Gewinnerzielung degradiert. Jede Form des Anschaffens sei daher Ausdruck männlich dominierter Ausbeutung.

Zahlreiche Stellungnahmen von Prostituierten, die in den letzten Jahren veröffentlicht wurden, zeichnen hingegen ein anderes Bild. Sie weisen den Status als Opfer zurück und betonen, Spaß an ihrer Arbeit zu haben. Die Beratungsstellen für Prostituierte und Verbände pflichten ihnen bei. Ihnen zufolge greift ein Prostitutionsverbot in das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung der Betroffenen ein. Es verhindere gerade nicht Zwangsprostitution, sondern lediglich die freiwillige Sexarbeit. Zwangsprostitution hingegen finde ohnehin im Verborgenen statt. Ebenso wenig sorge es dafür, dass die Ursache für unfreiwillige Prostitution verschwinde: Armut.

Feministen sind dagegen, Feministen sind dafür

Die Debatte in Deutschland erscheint zunächst paradox, denn auf beiden Seiten der Auseinandersetzung finden sich Feministen. Prominenteste Befürworterin eines Verbotes ist Alice Schwarzer. 2014 veröffentlichte sie einen Appell, der zur Kriminalisierung von Freiern aufruft. Kirchen, zahlreiche Politiker der Volksparteien und Schauspieler unterstützten den Aufruf. Auf der anderen Seite gehören liberale und linke Feministinnen zu den entschiedenen Gegnern eines Verbotes. Sie warnen vor den unerwünschten Folgen und gehen davon aus, dass sich das jahrtausendealte Phänomen Prostitution nicht durch einen einfachen Gesetzesbeschluss abschaffen lässt.

Selbst die Forschungsliteratur spiegelt diesen grundlegenden moralischen Zwiespalt wider. So werfen die schwedischen Wissenschaftlerinnen Åsa Westerstrand und Jenny Yttergren ihren skandinavischen Kollegen vor, mit der Kritik am Nordischen Modell ein neoliberales Verständnis von Sexkauf zu propagieren, das eine gewaltsame Ausbeutungspraxis als normal verkläre.

Solcher Kritik entgegnet die Historikerin Sonja Dolinsek von der Universität Erfurt, dass Verbotsanhänger undifferenziert einen Zusammenhang zwischen Menschenhandel, Sklaverei und Prostitution herstellten. Dies trage nicht zur Kriminalitätsbekämpfung bei und helfe ebenso wenig, die Situation der Sexarbeiter zu verbessern.

Flickenteppich europäischer Politik

Die uneindeutige Datenlage und wechselnde öffentliche Stimmungen erschweren auch eine konsistente politische Linie. In kaum einem Politikfeld vollzogen die europäischen Länder in den vergangenen fünfzig Jahren derart starke Kurswechsel. Beispiel Schweden: Bestrafte der skandinavische Staat noch bis in die 1960er Prostituierte, so entkriminalisierte er Sexarbeit im darauffolgenden Jahrzehnt – allerdings ohne Möglichkeiten zur sozialen Absicherung zu gewähren. Ende der 1990er folgte die erneute Kriminalisierung, seitdem jedoch zielt das Verbot auf die Freier. Werden sie ertappt, müssen sie mit Geldbußen rechnen.

Emanzipation durch Prostitutionsverbot?

Wirkt das Nordische Modell? Dafür gibt es keine gesicherten Belege. Die offizielle Evaluation der schwedischen Gesetzgebung lobt zwar, dass nach ihrem Inkrafttreten die Kriminalität nicht angewachsen sei. Den Beweis, dass auch die Prostitution abgenommen hat, ist sie jedoch schuldig geblieben. Lediglich der Anteil der sichtbaren Prostitution ist deutlich gesunken. Beraterverbände betonen, dass sich die Sexarbeit verlagert habe: von offiziellen Bordellen in private Wohnungen, Saunaclubs und anderen Lokalitäten. Hier kontrolliert die Polizei kaum; der Aufwand wäre zu groß.

Zur Verlagerung trugen neben den rechtlichen Regelungen auch die technischen Entwicklungen bei. Dank Mobiltelefonen und Internet findet der Erstkontakt nicht mehr auf der Straße, sondern in der schwer kontrollierbaren digitalen Welt statt. Der Rückgang der Straßenprostitution bedeutet daher nicht, dass der Markt insgesamt kleiner geworden ist.

Neben der fehlenden Wirksamkeit warnen Studien vor allem vor einer erhöhten Gefahr für Prostituierte. In der Illegalität sind Sexarbeiter häufiger Gewalt ausgesetzt, schließlich können sie nicht mehr auf die Sicherheitsdienste der Bordelle zugreifen. Zudem fehlt ihnen die Möglichkeit, vereinbarte Löhne oder gute Arbeitsbedingungen notfalls mit Rechtsmitteln durchzusetzen.

Zwar sind einigen Autoren zufolge durch das Gesetz die Preise für den Sexkauf in Schweden gestiegen. Das führe jedoch zu ungewollten Nebeneffekten, denn Menschenhandel und Prostitution würden damit lukrativer.

Entmündigung statt Selbstbestimmung

Die Erwartung einer emanzipatorischen Gesetzgebung kann das Prostitutionsverbot nicht erfüllen. Mitunter schlägt es ins Gegenteil um. Der wohl bekannteste Fall Schwedens ist Eva Marree Smith Kullander. Unter dem Namen »Petite Jasmine« hatte sie für zwei Wochen im Escortservice gearbeitet. Deshalb entzog ihr das schwedische Sozialamt 2009 das Sorgerecht für ihre Kinder. Ein Verdacht, dass deren Wohl gefährdet sei, bestand zu keinem Zeitpunkt. Der von ihr getrennt lebende Vater der Kinder erhielt das ausschließliche Sorgerecht, obwohl er vorbestraft war und als gewalttätig galt. Smith Kullander wehrte sich öffentlich und führte einen jahrelangen Kampf, um Sorge- und Besuchsrecht zurückzuerhalten. Dieser endete 2013 gewaltsam. Bei einem Termin auf dem zuständigen schwedischen Amt wurde sie ermordet: vom Vater der Kinder.

Sexarbeiterorganisationen beklagen, dass diese Form der Entmündigung kein Einzelfall sei. Mehrere Beispiele sind bekannt, bei denen die berufliche Tätigkeit der Mutter zum Verlust des Sorgerechts geführt hat. Die schwedische Bevölkerung unterstützt diesen restriktiven Ansatz durchaus – in Umfragen befürwortet eine Mehrheit der Befragten, dass auch Prostituierte bestraft werden sollten. Statt Sexarbeiter zu schützen, trägt das Gesetz damit zu stärkerer Stigmatisierung bei.

Die liberale Selbstbegrenzung des Staates

Das Beispiel Smith Kullander erinnert an die zweifelhafte Praxis vergangener Jahrzehnte. Über weite Teile des 20. Jahrhunderts war es in zahlreichen europäischen Staaten möglich, Müttern das Sorgerecht für ihre Kinder zu entziehen. Ausschlaggebend dafür war nicht das Kindeswohl, sondern ein vermeintlich unmoralisches Verhalten: Homosexualität, vermutete außereheliche Aktivitäten, Prostitution.

Damit stellt sich schließlich die Frage, welche Rolle dem Recht zukommen soll und darf. Liberale und linke Feministen verweisen auf die Trennung von Staat und Kirche in modernen Rechtsstaaten. Aufgabe des Rechts sei nicht die moralische Erziehung der Bewohner, sondern der Schutz der Bürger gegen einen Staat, der allzu sehr in das Privatleben eingreifen möchte.

Menschenhandel bekämpfen

Von einem Verbot erhoffen sich die Befürworter ein Zurückdrängen von Sklaverei und Zwangsprostitution. Länder, in denen Sexarbeit legalisiert ist, sehen sich immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, dem Menschenhandel leichtes Spiel zu bereiten.

Eine Göttinger Studie aus dem Jahr 2013 kommt zu dem Schluss, dass ein statistischer Zusammenhang zwischen Menschenhandel und legalisierter Prostitution besteht. Zahlreiche Medien haben diese Studie als Beweis für ein Scheitern der deutschen Politik gedeutet. Das ist jedoch eine Fehlinterpretation, wie der Heidelberger Forscher Axel Dreher, einer der Autoren der Studie, klarstellt.

Gerade für Deutschland lasse sich das aus den vorliegenden Daten nicht ablesen. Generell bedeute der statistische Zusammenhang auch nicht, dass sich jedes Land mit einer liberalen Gesetzgebung zur Sexarbeit automatisch mit verstärktem Menschenhandel konfrontiert sieht. Denn dieser wird von zahlreichen länderspezifischen Faktoren beeinflusst. Dreher versteht die Studie daher auch nicht als Argument für ein allgemeines Verbot. Er wirbt stattdessen für zielgerichtete Maßnahmen, die sich nur auf Menschenhandel beschränken. In Neuseeland zeigt sich beispielsweise, dass eine liberale Politik mit den passenden Rahmenbedingungen erfolgreich die Bedingungen für Sexarbeiter verbessern kann, ohne Menschenhandel zu befördern.

In Deutschland legalisierte die rot-grüne Bundesregierung 2001 die Prostitution. Die Anerkennung als regulärer Beruf sollte Sexarbeitern ein Leben außerhalb prekärer Bedingungen ermöglichen. Bislang ist jedoch nur ein Teil der Erwartungen eingetroffen. Die Möglichkeit, sich durch Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung gegen soziale Risiken zu schützen, nehmen nur vergleichsweise wenige Personen in Anspruch. Ein Gutteil der Prostitution findet weiterhin in einem Schattenbereich statt und ist nur schwer kontrollierbar. Ein neues Prostituiertenschutzgesetz von 2017 sieht deshalb Anmeldepflichten für Sexarbeiter und regelmäßige Kontrollen von Bordellen vor. Für eine fundierte Bewertung der Maßnahmen ist es noch zu früh, der durchschlagende Erfolg scheint auszubleiben.

Eine mühselige, aber notwendige Unterscheidung

Um Menschenhandel, Zwang und Gewalt gegen Sexarbeiter zu verhindern, erweist sich das Prostitutionsverbot als ineffektiv. Maßnahmen, die auf kriminelle Organisationen zielen, sind erfolgversprechender. Der deutsche Gesetzgeber sollte sich auch weiterhin die Mühe machen, zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Prostitution zu unterscheiden, selbst wenn dies in der Praxis nicht immer leicht zu realisieren ist und die Resultate hinter den Hoffnungen zurückbleiben.

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Fußnoten

  1. Vgl. o.A.: Organisierte Kriminalität. Mehr als 100 Festnahmen bei Razzien wegen Menschenhandel, auf: zeit.de (18.4.2018).
  2. Diese Bezeichnung ist allerdings irreführend, da von den nordeuropäischen Ländern nur Norwegen, Schweden und Island Prostitution verboten haben. In Dänemark hingegen bleibt sie weiterhin erlaubt. Zudem sind die Unterschiede zwischen den Gesetzen sehr groß.
  3. Vgl. Deutscher Bundestag (Hg.): Stenografischer Bericht 243. Sitzung. Plenarprotokoll 17/243, Berlin 2013; Nagel, Lars-Marten: Prostitution – hier noch mehr Zahlen, auf: investigativ.welt.de (3.11.2013).
  4. Vgl. Schwarzer, Alice: Prostitution – Ein deutscher Skandal, Köln, 2013.
  5. Vgl. Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V. (Hg.): Stellungnahme KOK e.V. zum Referenten-
    entwurf des BMFSFJ vom 29.07.2015, Berlin o.J.; Dolinsek, Sonja: In der Presse: Appell für und gegen Prostitution, auf: menschenhandelheute.net (3.11.2013).
  6. Vgl. Westerstrand, Jenny; Yttergren, Åsa: The Swedish Legal Approach to Prostitution. Trends and Tendencies in the Prostitution Debate, in: NORA – Nordic Journal of Feminist and Gender Re-
    search, (24)2016,
    Nr. 1, S. 45-55.
  7. Vgl. Dolinsek, Sonja: Gegen Menschenhandel – oder nur gegen Sexarbeit?, auf: menschenhandelheute.net (30.11.2017).
  8. Vgl. Levy, Jay: Criminalising the purchase of Sex. Lessons from Sweden, London 2015.
  9. Vgl. ebd.
  10. Vgl. ebd.; Le Breton, Maritza: Sexarbeit als transnationale Zone der Prekarität, Wiesbaden 2011.
  11. Vgl. Levy, Jay; Jakobsson, Pye: Sweden's abolitionist discourse and law. Effects on the dynamics of Swedish sex work and on the lives of Sweden’s sex workers, in: Criminology and Criminal Justice, (14)2014, Nr. 5, S. 593-607.
  12. Vgl. u.a. die Reportage »Wo Sexarbeiterinnen keine Rechte haben«, Regie: Ovidie, F 2017.
  13. Vgl. Levy/Jakobsson 2014.
  14. Vgl. Carri, Christiane: Berliner Entmündigungsverfahren gegen Frauen von 1900-1933, Wiesbaden 2018.
  15. Vgl. o.A.: Menschenhandel und legale Prostitution: Ein Interview mit Axel Dreher, auf: menschenhandelheute.net (11.9.2013).
  16. Mit der Legalisierung schufen die Gesetzgeber zugleich Angebote zur Gesundheitsvorsorge, Beratung und Rechtshilfe.- Vgl. Open Society Foundations (Hg.): 10 Reasons to Decriminalize Sex Work, New York o.J.
  17. Vgl. Euchner, Eva-Maria: Prostitutionspolitik in Deutschland. Entwicklung im Kontext europäischer Trends, Wiesbaden 2015.
  18. Vgl. Spitzer, Anna-Lena: Strafbarkeit des Menschenhandels zur Ausbeutung der Arbeitskraft, Wiesbaden, 2018.

Autor:innen

Geboren 1988, von 2017 bis 2022 bei KATAPULT und Chefredakteur des KNICKER, dem Katapult-Faltmagazin. Er hat Politik- und Musikwissenschaft in Halle und Berlin studiert und lehrt als Dozent für GIS-Analysen. Zu seinen Schwerpunkten zählen Geoinformatik sowie vergleichende Politik- und Medienanalysen.

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