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Antisemitismusforschung

Antisemitismus in der Gegenwart

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In der öffentlichen Wahrnehmung Europas haben sich in dramatischer Weise die Gewichte bei der Bewertung des Nahost-Konfliktes verschoben. Der Angst um das bedrohte Israel, die 1967 im Sechs-Tage-Krieg die Menschen zu Sympathiekundgebungen für den jüdischen Staat auf die Straße trieb, folgte die pauschale Verurteilung der israelischen Besatzungs- und Siedlungspolitik in den palästinensischen Gebieten. Der Befund von Meinungsumfragen, nach denen eine große Zahl europäischer Bürger der Politik Israels verständnislos ablehnend gegenüber steht, ist nicht aus der Welt zu schaffen.

Zu bemerken ist auch, dass die Juden der Diaspora sich zunehmend mit Israel solidarisch erklären, auch wenn viele, ebenso wie zahlreiche Israeli, die Politik der Stärke nicht für glücklich halten und sich andere Wege für die Sicherheit Israels und einen Frieden mit den Palästinensern vorstellen können. Tatsache ist, dass in vielen Ländern Europas die Sympathie des Publikums und in erheblichem Maße ebenso die der Medien sich von Israel abgewendet hat und die Ursachen der Gewaltspirale nicht mehr in das negative Urteil über Israel einbezieht. Tatsache ist, dass die Medien auch in Deutschland nicht immer objektiv über Israel berichten.

Wenn die Rede davon ist, dass Israel mit dem Abwehrzaun gegen palästinensisches Territorium »das größte KZ der Welt« errichtet habe, wenn das Schicksal schwangerer Palästinenserinnen beklagt wird, die bei stundenlangen Grenzkontrollen des israelischen Militärs leiden müssen, wenn die Wahrnehmung auf das individuelle Leid palästinensischer Familien reduziert wird, der Terror palästinensischer Guerillas und Selbstmordattentäter gegen ebenso unschuldige israelische Familien in den Straßen von Tel Aviv oder Jerusalem ausgeblendet wird, dann ist die Vermutung einseitiger Parteinahme wohl berechtigt; ebenso die Vermutung, dass feindselige Emotionen im Spiel sind.

Selbstverständlich ist es legitim, politische und militärische Handlungen eines Staates zu kritisieren, und das gilt für Israel nicht weniger als beispielsweise für den Krieg der Vereinigten Staaten von Amerika gegen den Irak mit allen seinen unerfreulichen Begleiterscheinungen und Folgen. Der Unterschied in der Beurteilung ist leicht erkennbar: Beim Irak-Krieg wurde zwischen der Regierung Bush und der US-Army einerseits und »den Amerikanern« andererseits durchaus unterschieden. Niemand erklärte die Exzesse im Irak, die einzelnen Soldaten zur Last fallen oder umstrittene Entscheidungen der Bush-Administration aus dem »Nationalcharakter der Amerikaner« heraus, um möglicherweise gar die Forderung daran zu knüpfen, die USA müssten von der Landkarte verschwinden.

Im Falle Israels ist das anders. Das lehren die monströsen Vergleiche ebenso wie die Bemühungen, »jüdische« Eigenart zu typologisieren, um alle Juden dieser Welt mit der israelischen Politik zu identifizieren und diese als Ausfluss vermuteter jüdischer Charaktereigenschaften zu erklären. Dazu werden die bekannten Stereotype – »alttestamentarische Rache«, »Unversöhnlichkeit«, »Arroganz des Auserwählten Volkes« usw. – bemüht.

Das Engagement, dass von manchen in die Verurteilung der israelischen Sicherheitspolitik investiert wird, ist aber von einer Wut gekennzeichnet, die misstrauisch machen muss. Militärische Aktionen Israels werden verallgemeinert zu Handlungen »des Judentums« und formuliert als moralische Anklage, oft unter Verweis auf den Holocaust. Letzteres soll suggerieren, die Israeli würden, stellvertretend für die Juden überhaupt, etwas praktizieren, das ihnen selbst widerfahren ist, nämlich die Verfolgung als Minderheit bis zur Konsequenz des Völkermords. Und gefordert wird von den Nachkommen der Opfer des Holocaust eine besonders hohe Moral.

Abgrenzung zwischen legitimer Kritik und Antisemitismus

Wann überschreitet also berechtigte und notwendige Kritik an der Politik Israels gegenüber den Palästinensern die Grenzen und ist Judenfeindschaft? Das geschieht spätestens dann, wenn Vorurteile und Stereotype, die mit der zu kritisierenden Angelegenheit nichts zu tun haben, weit über den Anlass hinaus als Erklärung und zur Schuldzuweisung benutzt werden. Als besondere Form von Antisemitismus hat sich aus solcher Israelkritik auf dem Boden des Antizionismus eine Art Ersatz für Judenfeindschaft etabliert, das eine eigene Funktion hat, nämlich Nebenwege zu öffnen, auf denen mit scheinbar rationalen Argumenten Abneigung oder Feindschaft gegen Juden transportiert werden kann.

Seit der Eskalation des Nahost-Konfliktes im Herbst 2000 ist die Metapher »Auge um Auge« inflationär im Gebrauch. Antiisraelische Demonstranten in Europa halten Transparente mit dem Bibelzitat in die Kameras und allenthalben dient es als wohlfeile Erklärung, wenn israelische Politik als Ausfluss »jüdischer« Charaktereigenschaften verurteilt wird. Das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« berichtete über den »blutige[n] Donnerstag von Ramallah«, bei dem israelische Soldaten, die versehentlich in die palästinensische Stadt gefahren waren, gelyncht worden waren: »Die Fernsehbilder schockierten die Welt und konnten die Israelis, die eine besondere Loyalität gegenüber ihrer Armee und ihren Soldaten pflegen, nicht ruhen lassen.« Im Gegenzug habe nun der damalige israelische Premierminister Barak an der Spirale der Gewalt gedreht: »Auge um Auge, Zahn um Zahn […]«

Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hatte in einer Artikelserie zum Nahost-Problem im Dezember 2001 einen türkischen Gastautor unter der Überschrift »Das Problem heißt Israel« folgendes schreiben lassen: »Der Islam mag Eigenarten besitzen, die das Zusammenleben mit anderen erschweren. Aber das Judentum verursacht noch größere Probleme, mit anderen auf gleicher ontologischer und moralischer Ebene zusammen zu leben. Jehova ist ein Abkommen speziell mit den Juden eingegangen. Er ist kein universeller Gott, der alle menschlichen Gemeinschaften als seine Herde ansieht. Er ist kein Gott des Friedens, sondern der Rache; Auge um Auge, Zahn um Zahn […] Dieser fundamentale Partikularismus spiegelt sich auch in der rassischen Begründung des Judentums.« In einem offenen Brief haben 200 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gegen diese antijüdische und antiisraelische Tendenz der Berichterstattung protestiert. Der Presserat nahm die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung dagegen in Schutz. Es habe sich bei den kritisierten Meinungsäußerungen um einen gekennzeichneten Gastkommentar gehandelt, nicht um eigene Positionen des Blattes.

Zur Methode judenfeindlicher Rhetorik gehören nämlich die Verwendung von Stereotypen mit beeinflussender Absicht und die Stimulierung von negativen Assoziationen wie Rachsucht, Auserwähltsein, religiöse Exklusivität.

Eine Frage des Ausdrucks

Trotzdem handelt es sich in der Sache nicht nur nach Meinung der Protestierenden um Antisemitismus. Zur Methode judenfeindlicher Rhetorik gehören nämlich die Verwendung von Stereotypen mit beeinflussender Absicht und die Stimulierung von negativen Assoziationen wie Rachsucht, Auserwähltsein, religiöse Exklusivität. Das hat einst die antisemitische Wochenzeitung »Der Stürmer« angewandt, die in jeder Nummer die gleiche Botschaft mit Stereotypen illustrierte.

Immer wieder findet sich die Metapher »Auge um Auge« unreflektiert und ohne Zusammenhang als Rubrik oder Zwischentitel in der Berichterstattung, oft erscheint sie als Floskel der Bestätigung oder des Übergangs. Als delikaten journalistischen Kunstgriff kann man es deshalb nicht werten, weil die abgegriffene Formel zu verschwenderisch gebraucht wird. Ahnungslosigkeit darf man auch nicht unterstellen, weil der Gebrauch als Chiffre der Verständigung, als Ausgrenzung der Juden zu offensichtlich ist. Das Beispiel mag als Hinweis dafür dienen, wo Israelkritik in Judenfeindschaft, die mit stereotypen Vorstellungen hantiert, übergeht.

Erlaubt und selbstverständlich ist die kritische Bewertung jeder Politik, unerlaubt ist das Bestreiten des Existenzrechts eines Staates, das mit der kollektiven Abwertung seiner Bürger argumentiert. Unerlaubt sind Verallgemeinerungen, die der Konstruktion eines negativen Gruppencharakters von Menschen, in diesem Falle der Juden, die synonym mit Israel und Israelis gesehen werden sollen, dienen oder sie unter Generalverdacht stellen.

Empathie für das Land Israel gehört unverändert zu den politischen Grundüberzeugungen der Deutschen, wenngleich angesichts des medial dargestellten Leids der palästinensischen Zivilbevölkerung gegenüber militärischen Aktionen und der politisch unbeweglichen Positionen israelischer Regierungen die bedingungslose Zustimmung bei vielen einer kritischen Haltung gegenüber israelischer Politik gewichen ist.

Vorschnelle Verurteilung

Diese Haltung ganz und gar als »neuen Antisemitismus« oder als revitalisierte Judenfeindschaft neo-nationalsozialistischen Ursprungs darzustellen, ist weder richtig noch hilfreich. Dass Juden zutiefst beunruhigt sind, wenn Demonstrationen wie im Sommer 2014 aus Anlass des Gaza-Kriegs auch in Deutschland stattfinden, ist verständlich. Nachvollziehbar ist ebenso, dass Juden sich im Stich gelassen fühlen, wenn dabei junge Araber und Sympathisanten der Palästinenser skandalöse Parolen skandieren, wie im Sommer 2014 ebenfalls vereinzelt geschehen. In der Sorge um Sympathieverlust wurde auch die Metapher, Juden säßen in Deutschland »auf gepackten Koffern«, wieder gebraucht. Solche Emotionen sind mit aus der Kenntnis der Geschichte rührendem tiefen Respekt zu würdigen.

Von einer »Pogromstimmung in Deutschland« zu reden, den November 1938 zu beschwören, einen Tsunami von »neuem Antisemitismus« zu mutmaßen, wie von jüdischen Repräsentanten und israelischen Diplomaten im Herbst 2014 artikuliert, ist aber kontraproduktiv. Weil es die beträchtlichen Anstrengungen des Aufklärens über und des Kampfes gegen Antisemitismus der letzten Jahrzehnte ebenso ignoriert wie die deutsche Erinnerungskultur und die Tatsache, dass Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland moralisch geächtet und juristisch kriminalisiert ist wie in keinem anderen Land. Das hat die Kundgebung im September 2014 am Brandenburger Tor in Berlin auf Wunsch des Zentralrats der Juden in Deutschland einmal mehr bestätigt.

Es gibt Judenfeindschaft im Alltag, die sich hinter vorgehaltener Hand mit Anspielungen und Beleidigungen Luft macht. Es gibt auch Pöbeleien bis hin zur Gewalt einzelner gegen Juden. Aber das ist nicht die Regel und es wird streng geahndet. Ein »neuer Antisemitismus« wird alle paar Jahre prognostiziert und eine Zunahme der Judenfeindschaft in Deutschland zu konstatieren, werden die Schicksalsdeuter nicht müde. Die Realität, soweit sie sich mit wissenschaftlichen Methoden erfassen lässt, zeigt jedoch ein anderes Bild. Ein von der Bundesregierung berufener »Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus« schätzte die Dimension der Judenfeindschaft anhand von Einstellungsmustern über Jahre hinweg auf konstante 15 bis 20 Prozent. Das heißt, im Weltbild dieser Bundesbürger gibt es Abneigungen gegen Juden. Das bedeutet nicht, dass diese Menschen samt und sonders fanatische oder gar gewaltbereite Judenhasser sind. Aber sie haben offenkundige Vorbehalte, die sie öffentlich nicht artikulieren würden. Gegenüber anderen Nationen sind das übrigens sogar günstige Werte, was freilich angesichts historischer Schuld nichts wiegt.

Antisemitismus hat nach wissenschaftlicher Erkenntnis, die oft im Gegensatz zur gefühlten Situation steht, in Deutschland eher eine abnehmende Tendenz. Trotzdem gibt es Abneigung gegen Juden auch in Deutschland. In regelmäßigen Meinungsumfragen wird deren Dimension sichtbar. Ohne signifikante Veränderung während jahrzehntelanger Beobachtung lautet der Befund, dass bis zu 20 Prozent der Deutschen in ihrem Weltbild auch Ressentiments gegen Juden hegen. Das sind Einstellungen, die nicht mit Gewalt oder Gewaltbereitschaft verbunden sind oder mit Vernichtungs- bzw. Vertreibungswünschen einhergehen. Daher ist die Vergröberung der Umfrage-Ergebnisse zur Schlagzeile »jeder fünfte Deutsche ein Antisemit« ganz falsch.

Sekundärer AntisemitismusDer regelmäßig prognostizierte »neue Antisemitismus« ist nichts anderes als die monotone Judenfeindschaft mit ihren Stereotypen, Legenden, Unterstellungen, Schuldzuweisungen, die sich in Jahrhunderten entwickelt hat. Während religiös argumentierender Antijudaismus hierzulande allenfalls eine marginale Rolle spielt, ist Antisemitismus als politisches, soziales, ökonomisches und kulturelles Vorurteil mit seiner rassistischen Tradition spürbar. Ebenso ist es der »sekundäre Antisemitismus«, der nicht trotz, sondern wegen Auschwitz Ressentiments gegen Juden nährt, weil sie sich angeblich mithilfe der Erinnerung an den Holocaust bereichern: durch Entschädigungen und Wiedergutmachung, darüber hinaus durch Erpressung mit der Erinnerung an den Judenmord. In letzter Konsequenz mündet dieser »sekundäre Antisemitismus« in die Leugnung des Holocaust. Antizionismus ist eine weitere Version der Judenfeindschaft. Ihr Kern ist die Verweigerung des Existenzrechts Israels. Hier treffen sich die arabischen Feinde Israels mit Gesinnungsgenossen aus aller Welt. Und hier docken die Antisemiten an, die etwas gegen »die Juden« haben, dies aber so nicht äußern dürfen, weil das dem politischen Comment unserer Gesellschaft fundamental widerspricht. Unter dem Deckmantel der Israelkritik finden sie sich; weil sie aber nicht nur den Staat Israel und dessen Handlungen meinen, sondern »die Juden« generell, erkennt man sie. Nicht nur Judenhasser und Israelfeinde bieten Anlass zur Sorge. Israelfreunde versuchen als Aktivisten, den Begriff Antisemitismus auf die Haltung gegenüber Israel zu verengen, und beziehen in ihr Urteil jede kritische Haltung zur israelischen Politik mit ein. Fest steht leider, dass die Stimmung gegenüber Israel erodiert. Das ist aber nicht gleichbedeutend mit Antisemitismus. Dass Antisemitismus auch im 21. Jahrhundert noch Konjunktur hat, als politisches Instrument, als private Überzeugung, als unausrottbares Vorurteil, ist beschämend und beängstigend genug.

Fußnoten

  1. Bednarz, Dieter; Follath, Erich; Großbongardt, Annette: Schlachthaus der Religionen, in: Der Spiegel, Hamburg (54)2000, H. 42, S. 238-241, URL: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-17596473.html, 18.05.2015.
  2. Tezel, Yahya Sezai: Das Problem heißt Israel, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (09.12.2001).

Autor:innen

Forschungsschwerpunkte
Vergleichende Ressentimentforschung
Nationalsozialismus
Rechtsextremismus

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