Jäger jagen. Sammler sammeln. Bauern bauen: Pflanzen an – und Dörfer auf. Soweit die gängige Vorstellung davon, wie unsere steinzeitlichen Vorfahren sesshaft wurden und so unseren heutigen Lebensstil begründeten. Aus umherziehenden Jägern und Sammlern wurden Ackerbauern und Viehzüchter, die dauerhafte Siedlungen errichteten. Vorratshaltung, Spezialisierung und Arbeitsteilung folgten. Die Gemeinschaften wuchsen, Dörfer wurden größer. Und wo mehr und mehr Menschen miteinander auskommen müssen, bedurfte es schließlich sozialer Mechanismen, das Zusammenleben zu organisieren: Vorschriften und Regeln, Rechte und Pflichten. Mit der Religion war ein solches Ventil gefunden. Ein Ereignis folgte dem nächsten, eine Entwicklung zog die andere nach sich – dachten wir jedenfalls lange Zeit. Doch dann wurde Mitte der 1990er Jahre im Südosten der Türkei, unweit der heutigen Großstadt Şanlıurfa, eine Entdeckung gemacht, die diese hübsche Gleichung ins Wanken brachte. Was das Team um den deutschen Archäologen Klaus Schmidt, bis zu seinem Tod 2014 an der Orientabteilung des Deutschen Archäologischen Instituts tätig, hier auf den Felsplateaus des »Göbekli Tepe«[1] in mehr als zwanzigjähriger Ausgrabungstätigkeit freilegte, gilt heute als bislang älteste bekannte von Menschenhand errichtete Monumentalarchitektur.[2] Neun gewaltige Kreisanlagen sind im Laufe dieser Arbeiten bisher ausgegraben worden, weitere dürften noch unter dem bis zu 15 Meter hohen Hügel verborgen liegen. Grafik herunterladen Sie alle folgen dem gleichen Muster: etwa ein Dutzend gut vier Meter hohe, T-förmige Kalksteinpfeiler sind, durch Mauern und Steinbänke verbunden, im Kreis um ein zentrales Paar ähnlicher, doch mit fünfeinhalb Metern weit größerer Pfeiler angeordnet. Diese sind es schließlich auch, die die Menschengestalt dieser stark abstrahierten, ja regelrecht kubistisch anmutenden T-Pfeiler preisgeben: zeigen sie doch im Relief dargestellte Arme und Hände, Gürtel und gar Lendenschurze aus Fuchsfell. Auf anderen Pfeilern finden sich weitere Darstellungen zahlreicher Jagdtiere wie Wildschweinen, Gazellen und Füchsen, aber auch allerhand (wenigstens von uns heute) als eher unangenehm empfundene Kreaturen, zum Beispiel Schlangen, Spinnen und Skorpione. Darüber hinaus aber erwecken diese menschengestaltigen Pfeiler noch einen ganz anderen Eindruck – nämlich den einer steinernen Versammlung, die sich stumm zusammengefunden hat. Das beeindruckende an diesen Anlagen aber ist nicht nur ihre Monumentalität, sondern vor allen Dingen auch ihr Alter: Nach Aussage der hier zahlreich gefundenen Feuersteinwerkzeuge und an im Mauerverputz gefundenen organischen Resten vorgenommener Radiokarbondatierungen[3] sind diese nämlich bereits vor gut 12.000 Jahren errichtet worden – von steinzeitlichen Steinmetzen also, von mobilen Jägern und Sammlern. Den dafür offensichtlich notwendigen Grad an sozialer Organisation hatte man bis zur Entdeckung des Göbekli Tepe nicht mit den egalitär angenommenen Gemeinschaften des frühen Neolithikums in Verbindung gebracht. Grafik herunterladen Und doch stellen die T-Pfeiler-Bauten, deren Errichtung die Arbeitskraft einer einzelnen Jäger-Gruppe überschritten haben dürfte, genau das überaus deutlich zur Schau: Planung, Kooperation und Koordination. Genaue Zahlen für die Größe dieser Gruppen zu ermitteln, fällt den Wissenschaftlern schwer, denn die Quellen, die normalerweise Auskunft über die Bevölkerungsgröße geben, Bestattungen nämlich, fehlen weitestgehend. Ethnologische und historische Überlieferungen über spätere Jäger-Sammler-Gesellschaften lassen aber vermuten, dass wahrscheinlich Gruppengrößen von etwa 25 bis maximal 50 Personen anzunehmen sind – und dass etwa zehn bis 20 solcher Gruppen, verbunden durch eine gemeinsame Kultur und Sprache, miteinander interagierten. Die Errichtung solcher Monumentalanlagen, wie sie auf dem Göbekli Tepe entstanden sind, bedurfte also der Arbeitskraft gleich mehrerer Gruppen. Regelmäßige Treffen und der Austausch von Gütern, Informationen und auch Heiratspartnern sind für Nomadengemeinschaften überlebenswichtig. Oft sind solche Treffen – auch das können Archäologen Dank ethnologischer Berichte[4] annehmen – mit der Ausrichtung von Feiern verbunden, denn die Aussicht auf ein großes Fest ist in der Tat ein attraktiver Grund, sich auf die Reise zu einem solchen Treffpunkt zu begeben. Diese folgen ritualisierten Bahnen und können durchaus mit Mythen, bestimmten Glaubensvorstellungen und kultischen Handlungen einhergehen. Dafür sprechen auch die reichen Reliefdarstellungen, Skulpturen und Skulpturenfragmente des Göbekli Tepe. Außerdem sind Feste freilich eine ausgezeichnete Möglichkeit, hinreichend Personal und Arbeitskraft vor Ort zu versammeln – um große Gemeinschaftsprojekte zu realisieren. Gemeinschaftsprojekte wie die Errichtung monumentaler Bauten zum Beispiel. Dass dazu ein gewisses Maß an Planung nötig ist, liegt ebenso auf der Hand wie der Bedarf an Spezialisierung und Arbeitsteilung. Denn wer Steinblöcke aus dem Fels bricht oder Skulpturen und Reliefs fertigt, kann nicht auf die Jagd gehen – und muss also von anderen versorgt werden. Überhaupt dürfte die Versorgung solcher Großprojekte, vor allem wenn sie mit ausgedehnten Festen verbunden sind, eine gewaltige Herausforderung dargestellt haben. Die überwältigend große Zahl an Tierknochenfunden, die in der Verfüllung der Kreisanlagen des Göbekli Tepe gefunden wurden, ist klares Zeugnis solcher Feiern. Vor allem die Überreste von Jagdtieren wie dem gewaltigen Auerochsen, der bis zu 200 Kilogramm Fleisch liefern konnte, und Gazellen finden sich häufig – und stets sind es die besonders fleischreichen Teile, die die Jäger auf den Berg gebracht und dort verzehrt haben. Die Knochen weisen deutliche Schnitt- und Brandspuren auf, oft sind sie gar zerbrochen, um auch an das Mark in ihrem Inneren zu gelangen. Wiederholte Feste solch großen Ausmaßes dürften einen gehörigen ökonomischen Druck auf Gruppen ausgeübt haben, deren Lebensweise ganz wesentlich auf die Jagd und das Sammeln ausgerichtet war. Je mehr Menschen sich vor Ort zusammenfanden und je größer die gemeinschaftlichen Projekte wurden, desto höher musste zwangsläufig auch der zu stillende Nahrungsmittelbedarf ausfallen. Es ist deshalb nur folgerichtig, anzunehmen, dass die Jäger und Sammler hier über kurz oder lang damit begonnen haben, Alternativen zu suchen und mit anderen Nahrungsquellen zu experimentieren. Es ist sicher kein Zufall, dass durch den Vergleich des Erbguts moderner Einkornsorten einer der Urahnen jener Weizenart, die zu den ersten und wichtigsten domestizierten Getreidesorten zählt, ganz in der Nähe des Göbekli Tepe lokalisiert werden konnte: am Karacadağ, einem erloschenen Schildvulkan – an dessen Hängen noch heute Einkorn in großen Mengen wächst. Gewaltige, bis zu 160 Liter fassende Steinbottiche, die ebenfalls am Göbekli Tepe ausgegraben wurden, könnten zudem darauf hindeuten, dass aus diesem Getreide nicht nur Brei oder Brot gefertigt wurde. Ablagerungen im Inneren dieser Steingefäße lassen die Interpretation zu, dass hier einst mehr als nur Wasser aufbewahrt wurde. Ein Gebräu fermentierten Getreides nämlich – eine sehr einfache, recht frühe Form von Bier also. Neben der auf Festen sicher nicht unwillkommenen berauschenden Wirkung dieses Getränks hatte es außerdem den Vorteil längerer Haltbarkeit und war am Ende womöglich auch besser bekömmlich als andere Getreideprodukte. Die mangels Anpassung an diese Form der Ernährung bei prähistorischen Jägern unter Umständen noch häufiger auftretende Unverträglichkeit gegenüber dem Gluten im Korn könnte im Fermentierungs- und Filtrierungsprozess durch Aufspaltung der Klebereiweiße durchaus gemindert worden sein. So gesehen hatten diese großen steinzeitlichen Feste am Göbekli Tepe und die beeindruckenden Monumente, die die Jäger in der Folge dort errichteten, einen entscheidenden Einfluss darauf, was man später als »Neolithische Revolution« bezeichnen sollte – den Übergang zu Ackerbau und Viehzucht. Unsere Vorfahren gaben sich nicht mehr länger damit zufrieden, von dem zu leben, was die Natur anbot. Sie griffen nun aktiv in diesen Kreislauf ein und begannen, selbst Nahrungsmittel zu produzieren. Und setzten damit eine nicht mehr aufzuhaltende Kettenreaktion in Gang: Felder mussten gehegt werden, die Bauern sich dauerhaft in deren Nähe niederlassen. Dörfer wuchsen und boten immer mehr Menschen ein Dach über dem Kopf. Und dank der neuen Versorgungssituation auch Nahrung. Es scheint, als hätten diese frühen Feste wesentlichen Anteil an der Entstehung unserer heutigen Lebensweise gehabt. Die Geburt der Religion wäre demnach eher Grund als Folge der Sesshaftwerdung unserer Vorfahren gewesen. Aktuelle Ausgabe Dieser Beitrag erschien in der neunten Ausgabe von KATAPULT. Unterstützen Sie unsere Arbeit und abonnieren Sie das gedruckte Magazin für nur 19,90 Euro im Jahr. KATAPULT abonnieren