In Kriegen, Bürgerkriegen und in repressiven Autokratien sind schwere Menschenrechtsverletzungen meist an der Tagesordnung. Staatliche Akteure wie Militär und Polizei sowie nichtstaatliche Konfliktparteien verüben systematisch und in großem Umfang Taten wie Mord, Versklavung, Vertreibung, Freiheitsentzug, Verschwindenlassen, Folter und Vergewaltigung. Diese Vergehen verletzen den Kern der Menschenrechte: das Recht auf körperliche Unversehrtheit. In Reaktion darauf wird in Übergangsphasen (Transitionen) von der Autokratie zur Demokratie oder vom Krieg zum Frieden »Transitional Justice« eingesetzt. Der Begriff bezeichnet die gesamte Palette von Prozessen und Mechanismen, die dazu dienen, schwerwiegende Verbrechen der Vergangenheit aufzuarbeiten, um Verantwortlichkeit, Gerechtigkeit und Versöhnung zu erreichen. Hierzu gehören individuelle Strafverfolgungen, Entschädigungen, Wahrheitskommissionen oder Überprüfung und Entfernung von Funktionsträgern aus dem Amt. Es gibt sowohl gerichtliche als auch außergerichtliche Maßnahmen, ohne oder mit einem unterschiedlichen Ausmaß an internationaler Beteiligung. Ausweitung von Transitional Justice Ursprünglich war der Einsatz von Transitional-Justice-Maßnahmen auf Situationen des Übergangs von autokratischen zu demokratischen Systemen beschränkt. Entscheidungen über den Umgang mit der Vergangenheit galten als »Verhandlungsmasse« im Demokratisierungsprozess. Während aus dem Amt scheidende autoritäre Machthaber vermeiden wollten, für ihre Verbrechen zur Verantwortung gezogen zu werden, befand sich die neue, demokratische Regierung in einem Entscheidungsdilemma zwischen Verfolgen und Bestrafen einerseits und Vergeben und Vergessen andererseits. Skeptiker befürchten hingegen, die noch instabile Demokratie durch Provokation der alten Eliten zu gefährden Laut ihrer Befürworter leistet die Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen einen Beitrag zur Etablierung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Skeptiker befürchten hingegen, die noch instabile Demokratie durch Provokation der alten Eliten zu gefährden. Nach dem Ende des Kalten Krieges wurden angesichts des Anstiegs innerstaatlicher Gewaltkonflikte Transitional-Justice-Instrumente nicht mehr nur in Demokratisierungsprozessen, sondern auch in Übergangssituationen vom Bürgerkrieg zum Frieden eingesetzt. Damit wandelte sich der Charakter der Transitional Justice. War sie etwa in Argentinien, Chile und Südafrika durch das Engagement einheimischer Politiker, Juristen und Menschenrechtsorganisationen geprägt, so entwickelte sie sich in Ländern wie Jugoslawien, Ruanda oder Kambodscha zu einem Teil des »Werkzeugkastens« der internationalen Gemeinschaft zur Friedenssicherung nach Konflikten. Transitional Justice kommt sogar unabhängig von politischen Übergangssituationen vor. Auseinandersetzungen über den angemessenen Umgang mit der Vergangenheit sind im Verlauf von Demokratisierungsprozessen nicht auf die Übergangszeit beschränkt, sondern begleiten Gesellschaften jahrzehntelang. Aufgrund der Machtverhältnisse während des Übergangsprozesses ist eine Aufarbeitung oft erst mit zeitlichem Abstand möglich Aufgrund der Machtverhältnisse während des Übergangsprozesses ist eine offizielle Aufarbeitung vielfach erst mit zeitlichem Abstand möglich. Finden hingegen zu einem frühen Zeitpunkt staatliche Aufarbeitungsinitiativen statt, sind diese oft vorsichtig und nicht umfassend. In diesen Fällen fordern politische und gesellschaftliche Akteure eine weiter reichende Auseinandersetzung mit den Menschenrechtsverletzungen. Mit Blick auf Lateinamerika wurde für diese zeitverzögerte Aufarbeitung der Ausdruck »Post-transitional Justice« geprägt. Transitional Justice noch während des Bürgerkrieges Ein weitere Variante von Transitional Justice unabhängig von Regimewechseln sind Versuche, durch solche Maßnahmen den Verlauf von noch nicht beendeten Konflikten zu beeinflussen. Ein Beispiel ist das Experimentieren mit verschiedenen Transitional-Justice-Mechanismen in Kolumbien, wo 2005 noch während des laufenden Bürgerkrieges ein »Friedens- und Gerechtigkeitsgesetz« verabschiedet wurde in der Hoffnung, damit einen Friedensprozess einzuleiten. Das Gesetz sollte paramilitärischen Gruppen Anreize zur Niederlegung der Waffen bieten und schuf eine Kommission zur Entschädigung der Opfer. Zudem wird Transitional Justice nach Menschenrechtsverletzungen in Situationen extremer politischer Polarisierung in instabilen Demokratien verwendet. Ein Beispiel sind Gewaltausbrüche vor, während oder nach Wahlen. Nach den Präsidentschaftswahlen in Kenia 2007/2008 oder der Elfenbeinküste 2010/2011 kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern der Kandidaten, mit denen sich unter anderem der Internationale Strafgerichtshof befasst. Ausgelöst durch die Foltervorwürfe gegen die USA im Irak, Afghanistan und dem Gefangenenlager Guantánamo stellt sich die Frage, ob mächtige Staaten für ihre Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung gezogen werden können Darüber hinaus gibt es in westlichen Demokratien Initiativen zur Aufarbeitung historischen Unrechts in ehemaligen Kolonien, gegenüber indigenen Bevölkerungsgruppen oder früheren Sklaven und deren Nachkommen. Wiedergutmachungsmaßnahmen wie offizielle Entschuldigungen, Reparationen, die Einrichtung von Untersuchungskommissionen oder der Bau von Denkmalen – beispielsweise in Kanada, Australien und Neuseeland – werden unter dem Schlagwort Transitional Justice diskutiert, obwohl es sich bei diesen Staaten um etablierte Demokratien handelt. Ausgelöst durch die Foltervorwürfe gegen die USA im Irak, Afghanistan und dem Gefangenenlager Guantánamo stellt sich zudem die Frage, ob und in welcher Form mächtige Staaten für ihre Menschenrechtsverletzungen im Rahmen internationaler Interventionen zur Verantwortung gezogen werden können. Gleiches gilt für private Akteure, etwa multinationale Unternehmen und deren Menschenrechtsverletzungen an Produktionsstätten in Entwicklungsländern. Unter den außergerichtlichen Verfahren zum Umgang mit gewaltsamer Vergangenheit sind sogenannte Wahrheitskommissionen am weitesten verbreitet. Das sind befristete Gremien, die von staatlicher Seite oder durch ein Friedensabkommen eingesetzt werden, um systematische Menschenrechtsverletzungen in repressiven Regimen oder während gewaltsamer Konflikte zu untersuchen. Grafik herunterladen Weltweit gab es inzwischen mehr als 40 solcher Gremien. Auch diese werden mittlerweile nicht mehr nur in Übergangssituationen im engen Sinne genutzt. Ein verbindendes Element bleibt aber die Aufarbeitung schwerer Menschenrechtsverletzungen. Transitional Justice lange nach dem Regimewechsel: Brasilien Während in anderen postautoritären Ländern Südamerikas wie Argentinien, Chile und Uruguay im Zuge der demokratischen Übergangsprozesse Wahrheitskommissionen eingesetzt und Offiziere verurteilt wurden, begann die offizielle brasilianische Auseinandersetzung mit der Militärdiktatur (1964-1985) spät. Zwar gab es ab 1995 Entschädigungsprogramme für die Familien von Todesopfern und ab 2002 auch für andere Opfergruppen. Aber erst 2012, fast drei Jahrzehnte nach dem formalen Ende des Militärregimes, fing der Staat damit an, die Verbrechen der Militärdiktatur systematisch aufzuklären, als die damalige Präsidentin Dilma Rousseff eine Wahrheitskommission ins Leben rief. Diese legte im Dezember 2014 ihren Abschlussbericht vor. Bereits vor ihrer Arbeitsaufnahme wurde die Kommission daher als zu schwach kritisiert – oder gar als Ablenkungsmanöver, um eine juristische Aufarbeitung zu umgehen Die Einrichtung der Kommission war durch langwierige Auseinandersetzungen über ihre Befugnisse und Zusammensetzung bestimmt. Sowohl das Militär als auch Opferfamilien und Menschenrechtsorganisationen übten harsche Kritik. Auf Druck des Militärs bezog sich das Mandat der Kommission schließlich nicht mehr auf die »politische Repression« – was auf die Verantwortlichkeit des Staates verwiesen hätte –, sondern auf den »politischen Konflikt«. Bereits vor ihrer Arbeitsaufnahme wurde die Kommission daher als zu schwach kritisiert – oder gar als Ablenkungsmanöver, um eine juristische Aufarbeitung zu umgehen. Kontroversen gab es auch über das adäquate »Timing«. Einerseits wurde beklagt, dass die Kommission zu spät gekommen sei und nicht mehr im Zusammenhang mit der formalen Rückkehr zur Demokratie stünde. Andererseits wurde argumentiert, dass sich das Land aufgrund fehlender Reformen und Kontinuität des Personals im Zuge des von oben kontrollierten Regimewechsels immer noch in der Übergangsphase befinde. Am brasilianischen Fall wird deutlich, dass Transitional Justice ein zirkulärer Prozess mit Fortschritten und Rückschritten ist, die aus längerfristigen Verschiebungen von Einfluss und Interessenlagen politischer und gesellschaftlicher Akteure resultieren. Transitional Justice nach Phasen politischer Instabilität: Kenia Auf Kenias Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Dezember 2007 folgte ein massiver Gewaltausbruch, da sich die Kandidaten der beiden größten Parteien (Party of National Unity und Orange Democratic Movement) als Sieger sahen und sich gegenseitig Wahlbetrug vorwarfen. Die 2008 durch das Parlament bestätigte Einsetzung einer Wahrheitskommission mit dem Namen »Truth, Justice and Reconciliation Commission« (TJRC) war – neben der Umsetzung weiterer Transitional-Justice-Maßnahmen – das Ergebnis von Friedensgesprächen, die zwischen den beteiligten Parteien unter internationaler Beteiligung geführt wurden. Allerdings war die Idee einer Wahrheitskommission bereits vorher diskutiert worden, um frühere Phasen repressiver Regierungen aufzuarbeiten. Dadurch umfasste das Mandat der TJRC nicht nur die Gewalt nach den Wahlen, sondern ein breites Spektrum politisch motivierter Verbrechen einschließlich ökonomischer Vergehen wie Landenteignungen in der Zeit von 1963 bis 2008. Der Großteil der Politiker war nicht bereit, die Arbeit der Kommission zu unterstützen, viele Opfer verweigerten die Teilnahme am Aufarbeitungsprozess Die Wahrheitskommission musste ihre Arbeit dabei in einem politisch angespannten Umfeld ausüben. Der Großteil der Politiker war nicht bereit, die Arbeit der Kommission zu unterstützen, da sie selbst Menschenrechtsverletzungen begangen hatten, die Gegenstand der Untersuchungen waren. Die Glaubwürdigkeit der Kommission wurde des Weiteren durch ihren Vorsitzenden, Bethuel Kiplagat, geschwächt, der im Verdacht stand, an politischen Morden und illegalen Landgeschäften beteiligt gewesen zu sein. Viele Opfer verweigerten deshalb die Teilnahme am Aufarbeitungsprozess. Die Kommissionsmitglieder sahen sich darüber hinaus bei der Erstellung des Abschlussberichtes, der im Jahr 2013 vorgelegt wurde, mit Beeinflussungsversuchen der Regierung konfrontiert. An diesem Beispiel zeigt sich, dass Wahrheitskommissionen wie auch andere Transitional-Justice-Maßnahmen stets in einem politischen Raum agieren, von verschiedenen Interessen abhängig sind und dem fortdauernden Einfluss politischer Eliten, die in Menschenrechtsverletzungen verwickelt waren, ausgesetzt sind. Seit den 1880er Jahren bis ins Jahr 1996 wurden in Kanada Kinder von Ureinwohnern zwangsweise in sogenannten Indian Residential Schools untergebracht, um sie dem kulturellen Einfluss ihrer Eltern zu entziehen Transitional Justice zur Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit: Kanada In Kanada wurde im Jahr 2008 eine Wahrheitskommission eingesetzt, um die Verbrechen an den kanadischen Ureinwohnern zu untersuchen. Seit den 1880er Jahren bis ins Jahr 1996 wurden die Kinder der Ureinwohner zwangsweise in sogenannten Indian Residential Schools untergebracht, die von der kanadischen Regierung finanziert und in erster Linie von den Kirchen – vor allem der katholischen Kirche, der Anglican Church of Canada und der protestantischen United Church of Canada – betrieben wurden. Das Ziel dieser Schulpolitik bestand darin, die Kinder dem kulturellen Einfluss ihrer Eltern zu entziehen, sie zu »zivilisieren« und zu sesshaften Bauern der weißen Gesellschaft zu erziehen. In den Schulen waren der Gebrauch der Muttersprache und das Ausleben kultureller Praktiken untersagt. Solche Formen der Erziehung waren Teil einer kolonial geprägten Siedlungspolitik und wurden auch in anderen Siedlerkolonien wie den USA oder Australien angewandt. Das gesamte Ausmaß der Misshandlungen in Form von sexuellen und anderen physischen Gewaltexzessen kam erst mit den Aussagen von Opfern Ende der 1980er Jahre an die Öffentlichkeit. Gleichzeitig wurde die Aufarbeitung der Verbrechen gefordert. Die Wahrheitskommission kommt in ihrem im Dezember 2015 veröffentlichten Abschlussbericht zu dem Ergebnis, dass es sich bei dem in den Schulen geschehenen Unrecht um einen »kulturellen Völkermord« handele. Dieser wird als Zerstörung derjenigen Strukturen und Praktiken beschrieben, die einer Gruppe erlauben, als solche zu bestehen. Mit dem Instrument der Wahrheitskommission wählte Kanada einen neuen Zugang für den Umgang mit kolonialem Unrecht und dessen Folgen. Die Kommission greift mit der Bezeichnung »Völkermord« den Begriff auf, der für ethnische Gruppen eine Anerkennung der an ihnen begangenen Verbrechen signalisiert. Die angestrebte Versöhnung wird mit der Hoffnung auf eine demokratischere Gesellschaftsform verknüpft, die das Selbstbestimmungsrecht indigener Gruppen respektiert. Es geht mit dem Einsatz dieser Wahrheitskommission somit nicht mehr – wie bisher üblich – um die Überwindung von Diktatur- oder Bürgerkriegsverbrechen mit dem Ziel der Etablierung eines demokratischen Staatssystems, sondern vielmehr um die Überwindung von Hinterlassenschaften einer weit zurückliegenden Kolonisierung in einer etablierten Demokratie. Zwischen Wissenschaft und Praxis Die drei Beispiele aus Brasilien, Kenia und Kanada zeigen, dass Transitional Justice nicht mehr nur in Situationen des politischen Übergangs stattfindet. Mechanismen wie Wahrheitskommissionen kommen auch jenseits von Demokratisierungsprozessen oder Übergängen von Krieg zu Frieden zum Einsatz, um Menschenrechtsverletzungen aufzuarbeiten. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist die Ausweitung des Anwendungsbereichs auf sehr unterschiedliche Situationen problematisch, weil sie die Vergleichbarkeit erschwert. Praktisch jedoch ist die stetige Weiterentwicklung von Wahrheitskommissionen vorteilhaft für die Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen. Aktuelle Ausgabe Dieser Beitrag erschien in der fünften Ausgabe von KATAPULT. Abonnieren Sie das gedruckte Magazin und unterstützen damit unsere Arbeit. KATAPULT abonnieren