Nur Arbeitslose und wenig gebildete Personen werden alkoholkrank. – Ein falsches Vorurteil. Rund fünf Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland sind alkoholabhängig oder weisen einen missbräuchlichen Konsum auf. Das schätzt die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS). Weitere zehn Prozent konsumieren in einem Ausmaß, bei dem es zu gesundheitlichen Schäden kommen kann. Einige Betroffene trinken gar auf der Arbeit oder haben noch immer Alkohol im Blut, wenn sie ihren Job machen. So wie die Bloggerin Vlada, die in einem Interview mit der Zeit über ihre jahrelange Abhängigkeit am Arbeitsplatz berichtete. In der Mittagspause kaufte sie sich eine Piccoloflasche Sekt, die gut in ihren Rucksack passte, auf der Bürotoilette trank sie Weißwein und ging danach an ihren Schreibtisch zurück. Wenn ihr jemand etwas am Computer zeigte, hielt sie die Luft an und atmete in die andere Richtung aus, damit niemand den Alkohol riechen konnte. Keiner Kollegin fiel die Abhängigkeit auf – auch weil sie ihren Beruf sehr gut machte. Bibliothekare weniger betroffen Oft merken Menschen es nicht, wenn sie einen alkoholkranken Kollegen haben. Dabei gibt es bestimmte Berufsgruppen, bei denen die Angestellten eher zu einem riskanten Konsum neigen. Das ist das Ergebnis einer Studie, die Wissenschaftler der Universität Liverpool im Februar veröffentlicht haben. Hierzu werteten sie eine Befragung von gut 100.000 berufstätigen Personen aus Großbritannien im Alter zwischen 40 und 69 Jahren aus. Die Daten umfassten deren Berufe und Konsumgewohnheiten. Fast ein Fünftel der Befragten  fiel in die Kategorie starker Konsum, die meisten von ihnen waren männlich. Insgesamt untersuchten die Wissenschaftler rund 320 verschiedene Berufe. Bei 51 davon war die Wahrscheinlichkeit, dass die Beschäftigten in einem gesundheitsschädlichen Ausmaß tranken, erhöht. Hierzu zählten etwa Angestellte in der Gastronomie (Barpersonal, Manager von Restaurants), Stuckateure und Industriereinigungskräfte. Bei den restlichen 26 Berufen zeigten die Beschäftigten ein geringes Risiko eines ungesunden Konsums, darunter Bibliothekare und Physiotherapeuten. Grafik herunterladen Erfolgreiche Frauen trinken Die Wissenschaftler untersuchten außerdem, ob sich der Effekt bei Männern und Frauen unterscheidet. Das Ergebnis: Bei Frauen sind es insbesondere Managerinnen und leitende Angestellte, die eine höhere Wahrscheinlichkeit für einen ungesunden Konsum zeigten, bei Männern überwogen handwerkliche Berufe. Zwar erlaubt die Studie keine kausalen Rückschlüsse, dass also die Beschäftigung in einem bestimmten Beruf zum erhöhten Konsum führt. Trotzdem zeigt sie, dass bestimmte Berufsgruppen stärker betroffen sind. Deshalb können solche Studien dabei helfen, Präventionsmaßnahmen gezielt für bestimmte Branchen anzubieten.  Aber nicht jeder, der regelmäßig Alkohol konsumiert, gilt gleich als abhängig. Für die Diagnose einer Abhängigkeit muss eine Person über einen längeren Zeitraum oder wiederholt eine bestimmte Anzahl an Symptomen zeigen. Hierzu gehören unter anderem ein starkes Verlangen, zu konsumieren, körperliche Entzugserscheinungen bei Abstinenz oder auch die nachlassende Wirkung bei gleicher Trinkmenge. Vernachlässigt die Person außerdem Dinge, die ihr sonst wichtig waren oder Spaß gemacht haben, oder trinkt weiter, obwohl bereits körperliche oder psychische Schäden vorliegen, sind das ebenfalls Hinweise auf eine Abhängigkeit. Laut der DHS erfüllten im Jahr 2018 hierzulande ungefähr 1,6 Millionen Erwachsene zwischen 18 und 64 Jahren diese Kriterien, konnten also als alkoholabhängig bezeichnet werden. Weitere 1,4 Millionen Personen zeigten einen schädlichen Gebrauch – auch Alkoholmissbrauch genannt. Jene zeigen bereits körperliche, psychische oder soziale Schäden aufgrund ihres Konsums, sind aber noch nicht abhängig. Grafik herunterladen Trinken gegen fehlende Anerkennung Alkohol kann aber auch schon gesundheitsschädlich sein, ohne dass ein Alkoholmissbrauch vorliegt. Doch wie viel Alkohol ist aus gesundheitlicher Sicht risikoarm? Die Kampagne »Kenn dein Limit« der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung nennt hierfür Richtwerte: Männer sollten täglich nicht mehr als 24 Gramm Alkohol zu sich nehmen, und das an maximal fünf Tagen pro Woche. An mindestens zwei Tagen sollte also vollständig auf Bier, Wein und Schnaps verzichtet werden. 24 Gramm Alkohol sind etwa in einem halben Liter Bier, einem Glas Wein oder zwei bis drei Schnäpsen enthalten. Da Frauen Alkohol schlechter abbauen, sind die Empfehlungen für sie strenger und liegen bei täglich 12 Gramm reinem Alkohol an maximal fünf Tagen in der Woche. Alles, was darüber hinausgeht, gilt als riskant.  Obwohl keine spezielle Berufsgruppe besonders zu Alkoholabhängigkeit neige, seien laut Wiebke Wagner, Leiterin des Suchttherapiezentrums Hamburg, im Jahr 2019 vermehrt Personen aus Pflegeberufen in ihrer Beratung gewesen. Sie erklärt diese Zunahme mit den härteren Arbeitsbedingungen in der Branche. Auch für Peter Raiser, stellvertretender Geschäftsführer der DHS, ist weniger der Beruf an sich entscheidend. Vielmehr seien es die individuellen Arbeitsbedingungen, die zu einem schädlichen Konsum führen können. Besonders problematisch sei es, wenn ein Beschäftigter keine angemessene Anerkennung für seine geleistete Arbeit bekomme. Verausgabt sich ein Angestellter völlig bei der Arbeit, wird dafür aber nicht belohnt, führt das zu Stress. In einigen Fällen versuchen die Arbeitnehmer dann, den Stress durch den Konsum von Alkohol zu reduzieren. Grafik herunterladen Abhängige trinken selten am Arbeitsplatz Im Allgemeinen ist ein ungesunder Konsum mit belastenden Situationen verbunden. Beschäftigte, die auf der Arbeit häufig einen starken Termin- und Leistungsdruck erleben oder vermehrt das Gefühl haben, bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gehen zu müssen, sind häufiger von Alkoholabhängigkeit oder -missbrauch betroffen. Neben Belastungen zeigen auch die soziale Situation im Job und die Bewertung der eigenen Arbeit einen Zusammenhang mit einem schädlichen oder abhängigen Gebrauch. So steigt die Wahrscheinlichkeit einer Alkoholsucht, wenn Beschäftigte seltener das Gefühl haben, dass ihre Arbeit wichtig ist, ihr Vorgesetzter sie unterstützt oder sie Teil eines Teams sind. Das ergab eine Umfrage, die die Krankenkasse DAK im Jahr 2019 in Auftrag gab.  Befragt wurden ungefähr 5.500 Arbeitnehmer im Alter zwischen 18 und 65 Jahren mithilfe eines Fragebogens, der auch in Kliniken und Praxen zum Erkennen von Alkoholproblemen verwendet wird. Bei jeder zehnten Person war das Trinkverhalten riskant, bei 1,3 Prozent gaben die Antworten Hinweise auf eine mögliche Abhängigkeit oder einen Alkoholmissbrauch. Aber trinken die Betroffenen auch am Arbeitsplatz? In der Regel nicht. Nur 14 Prozent der Beschäftigten, die die Kriterien einer möglichen Abhängigkeit erfüllten oder in einem sehr schädlichen Ausmaß tranken, gaben an, mehrmals pro Woche während der Arbeitszeit zu konsumieren. Der Großteil (circa 80 Prozent) sagte, er trinke nie am Arbeitsplatz. Grafik herunterladen Konsum ist kein Kündigungsgrund Was kann ein Arbeitgeber tun, wenn er den Verdacht hat, dass ein Angestellter ein Alkoholproblem hat? Eine Möglichkeit ist ein Stufenplan mit verschiedenen Interventionsgesprächen. Auf der ersten Stufe führen Vorgesetzter und Angestellter ein Vieraugengespräch, in dem der Vorgesetzte schildert, was er beobachtet hat und warum das problematisch ist. In weiteren Gesprächen werden dann mögliche Hilfsangebote thematisiert, Konsequenzen bei weiterem Konsum besprochen oder auch andere Personen einbezogen. Ziel der Gespräche sollte sein, dem Mitarbeiter zu verdeutlichen, dass die Abhängigkeit gemeinsam überwunden werden und das Arbeitsverhältnis bestehen bleiben soll. Alkoholkonsum selbst ist übrigens kein Kündigungsgrund. Erst wenn ein Arbeitnehmer aufgrund des Konsums seine Aufgaben nicht mehr erfüllt, kann er entlassen werden. Peter Raiser von der DHS empfiehlt, bei der Kommunikation ganz konkrete Formulierungen wie etwa das Wort »Sucht« zu vermeiden. Zum einen, weil der Arbeitgeber normalerweise nicht qualifiziert ist, eine solche Diagnose zu stellen. Zum anderen, weil es dann zu der Diskussion kommen kann, ob diese Einschätzung stimmt oder nicht. Raiser rät außerdem, Alkoholkonsum und betriebliche Veranstaltungen voneinander zu trennen. Auch andere Suchtberatungsstellen fordern ein generelles Alkoholverbot am Arbeitsplatz. Wichtig sei auch, eine Alkoholabhängigkeit als eine Erkrankung zu begreifen. So entschied es 1968 auch das Bundessozialgericht. Da sie viele Ursachen haben kann, kommt sie in allen Schichten und Positionen vor. Denn ein Grund, warum Alkoholismus am Arbeitsplatz oft nicht auffällt, ist laut Wiebke Wagner das falsche Bild von Alkoholikern. In der allgemeinen Vorstellung sind es eben eher Arbeitslose und wenig gebildete Personen und nicht Vorgesetzte oder andere Kollegen. Grafik herunterladen Aktuelle Ausgabe KATAPULT ist gemeinnützig und unabhängig. Wir finanzieren uns durch Spenden und Abos. Unterstütze unsere Arbeit und abonniere das Magazin gedruckt oder als E-Paper ab 19,90 Euro im Jahr! KATAPULT abonnieren