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Paywall für Corona-Artikel

Geld oder abkratzen

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Dieser Artikel hatte bereits zwei Entwürfe, die wir nicht veröffentlicht haben. Meine Nachbarin meinte, sie wären zu aggressiv formuliert gewesen. Ich könne nicht ständig andere Medien beschimpfen. Das stimmt natürlich, aber es fällt mir derzeit unfassbar schwer, diese deutsche Medienbranche zu akzeptieren.

Die wichtigsten US-Medien haben schon vor Wochen entschieden, ihre Paywall für Corona-Inhalte abzureißen. Die aktuelle Situation erfordere einen breiten Zugang zu genauen Berichten und präzisen Analysen, schrieb beispielsweise Jeffrey Goldberg, Chefredakteur von The Atlantic. Deutsche Medien wollen das nicht. Wie können sie solch harte Fehlentscheidungen treffen? Ist das noch unverantwortlich oder schon unmenschlich?

Die “Welt” verbirgt folgende Artikel hinter einer Paywall, das heißt, Menschen können diese Artikel erst lesen, wenn sie dafür bezahlen:

1. Was jeder in Deutschland wissen sollte
2. Soziale Kontakte meiden, warum das jetzt entscheidend ist
3. Bei diesen Symptomen sollten Eltern aufpassen

Die Artikel scheinen wichtige Informationen zu enthalten - herausfinden kann das nur, wer bezahlt. Viele Verleger sammeln derzeit auf diese Weise Abos und die “Welt” ist mit diesem Verhalten nicht allein. Die meisten deutschen Medien und vor allem auch viele Lokalblätter verlangen für ihre Corona-Artikel Geld. Dabei profitieren sie ohnehin schon von der Corona-Krise. Denn der Medienkonsum der Bevölkerung ist gestiegen. Jeder Corona-Inhalt bekommt Aufmerksamkeit. Leute kommentieren, liken, klicken auf Artikel, lesen länger als sonst.

KATAPULT hatte den Vorwurf, dass Medientreibende gerade jetzt ihren Informationsvorsprung ausnutzen, schon vor ein paar Tagen veröffentlicht. Mitarbeiter anderer Verlage haben sich daraufhin bei mir gemeldet. Wie waren die so drauf? Alle empört. Von Mal zu Mal wurde ich trauriger - und auch wütender. Ihre Argumente lauteten in etwa so:

Journalismus kostet nun mal!
Ihr verlangt doch für Katapult auch Geld!
Verkauft der Bäcker seine Brötchen jetzt auch umsonst?

Einerseits ist die Dummheit, die sich in meinem Mailpostfach sammelt, schwer zu ertragen, andererseits soll ich nicht immer andere Medien beschimpfen. Fakt ist, Medien sind von der Corona-Krise nicht betroffen. Ganz im Gegenteil, sie profitieren davon. Noch viel wichtiger ist, dass Journalismus - ganz genau betrachtet - derzeit eine der wichtigsten Berufsgruppen ist. Er klärt auf, wirkt Massenpaniken entgegen, gibt wichtige Verhaltenshinweise. Das ist entscheidend, um beispielsweise ein Social Distancing massenhaft durchzusetzen. Das rettet Leben.

Ja, Journalismus kostet Geld, aber überlebenswichtige Informationen gegen Geld einzutauschen ist nicht nur dreist: Es ist Erpressung. Ja, wir verlangen auch Geld für das gedruckte Katapult-Magazin. Wären darin wichtige Corona-Artikel, wären sie online schon lange frei zugänglich!

Erste Verlage melden, wegen der Corona-Krise, Kurzarbeit einführen zu wollen. Diese Erzählung ist unglaubwürdig. Viele von ihnen sind schon seit Jahrzehnten in der Krise. Sie nutzen die derzeitige Lage als Argument, um nicht zugeben zu müssen, dass sie bereits seit Ewigkeiten Leser verlieren und eigentlich nicht mehr rentabel sind.

Verleger haben zwei Ziele. Erstens, größtmögliche Aufklärung. Zweitens, Geld machen, eigenen Wohlstand sichern.

Manche versuchen beides und das ist derzeit ein Problem, denn das erste Ziel leidet durch das zweite: Menschen könnten aufgrund schlechter Aufklärung sterben. Ja, einigen Verlagshäusern geht es schlecht. Ja, einige Verlagshäuser sind auf ihre Paywall angewiesen. Aber wie langsam muss ein Gehirn rechnen, das nicht versteht, welche gesellschaftliche Bedeutung Journalisten gerade haben?

Ihr seid auf der Suche nach Geld bereits so stumpf geworden, dass ihr nicht mehr merkt, wie wichtig eure Arbeit für die Gesellschaft ist. Wer eure Informationen nicht bezahlen kann, holt sie sich womöglich auf Fake-News-Seiten. Euer Beruf ist einer der relevantesten, aber ihr handelt so, als wärt ihr Haarspray-Tester.

Einer höchst verunsicherten Bevölkerung in einer schweren Krise Abos aufzuzwängen, ohne die sie wichtige Informationen nicht schnellstmöglich bekommt, ist unmenschlich.

Derzeit müsst ihr einfach abliefern, sonst nichts. Dabei dürft ihr sogar eine gute Figur machen, das Scheinwerferlicht gehört euch. Ihr habt genau jetzt die Möglichkeit, der Bevölkerung das Vertrauen in den Journalismus zurückzugeben. Und wenn ihr dabei Gehälter kürzen müsst, gehts euch immer noch besser als vielen anderen, die entweder gar kein Einkommen mehr haben oder gerade abkratzen - weil die große Masse schlecht informiert war!

Ein paar weitere traurige Beispiele, falls wieder jemand mit dem Argument kommt, es handele sich nicht um die wichtigen Artikel:

Corona-Liveticker: 140 Infizierte in Leipzig, 650 in Sachsen (LVZ)
Corona-Liveticker: Die Lage in Hannover und Niedersachsen (HAZ)
Tirol: In Ischgl verbreitet sich das Virus und Tirol schaut zu (ZEIT)
Ausnahmezustand: Apocalypse, not now (ZEIT)
Liveblog zur Corona-Krise: Das ist die Lage in Schleswig-Holstein am Sonntag (Lübecker Nachrichten)
Aus Liebe zum Nächsten: Abstand halten in der Corona-Krise! (Lübecker Nachrichten)
Corona in Deutschland: Demokratie in Not (Süddeutsche)
Mobiler Pflegedienst - »Ich kann keinen Abstand halten« (Süddeutsche)
Corona und Von der Leyens Krisenpolitik: Machtlos in Brüssel (Spiegel)
Corona-Vorbereitungen einer Berliner Ärztin: »Kein Material, kaum Richtlinien, kein Geld« (Spiegel)
Wer ist Christian Drosten?: Ein Virologe wird zum Hoffnungsträger (FAZ)
Deutsches Gesundheitssystem: Patient stabil, Prognose düster (FAZ)
Corona-Krise in Düsseldorf: Diese Restaurants liefern ihr Essen aus (Rheinische Post)
Blutspenden in der Corona-Krise: OZ-Reporter macht den Selbsttest (OZ)
Corona, Gold und Marktmanipulation: Diese Verschwörungstheorien erschüttern die Finanzwelt (Wirtschaftswoche)
Corona-Pandemie: Wie ein Land den Ernstfall verlernte (Wirtschaftswoche)
Die Region im Ausnahmezustand – das müssen Sie jetzt wissen (HAZ)

Autor:innen

Der Herausgeber von KATAPULT und Chefredakteur von KATAPULTU ist einsprachig in Wusterhusen bei Lubmin in der Nähe von Spandowerhagen aufgewachsen, studierte Politikwissenschaft und gründete während seines Studiums das KATAPULT-Magazin.

Aktuell pausiert er erfolgreich eine Promotion im Bereich der Politischen Theorie zum Thema »Die Theorie der radikalen Demokratie und die Potentiale ihrer Instrumentalisierung durch Rechtspopulisten«.

Veröffentlichungen:
Die Redaktion (Roman)

Pressebilder:

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