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Geschichte der Wahlen

Demokratie wider Willen

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Die Wahlgeschichte um 1800 beginnt mit dem Desinteresse und mit der Übellaunigkeit der Bürger. Am Wahltag suchten die wahlberechtigten Bürger das Weite. Kaum die Hälfte tauchte zur Stimmabgabe auf. Ein Berliner berichtete von der »Trostlosigkeit des ganzen Actus«, und mit »derselben, schrecklichen Ruhe geht man nach Hause, um an die ganze Geschichte nicht mehr zu denken, froh, dass sie nur alle drei Jahre wiederkehrt«[1].

Dabei gab es eine Wahlpflicht und ein dezidiertes Interesse der Obrigkeit, die vor den Wahlen mit Zeitungsaufrufen und Plakaten an den Mauern das Volk zur Teilnahme drängte.

Preußen hatte mit seiner Städteordnung von 1808 eigentlich ein für die Bürger attraktives Wahlrecht. Gebildete Reformeliten, die sich um das Engagement der Bürger sorgten, hatten sich dafür eingesetzt. Die Besitzanforderungen für das Wahlrecht lagen für die damalige Zeit recht niedrig.[2] Die Städteordnung definierte alle Bürger als vor dem Staat gleich.[3] Gegen das »nach Klassen und Zünften sich theilende Interesse« setzten die Reformer den Gemeinsinn der Gesellschaft. Die Wähler besaßen wirkliche Macht, denn die zu wählende Stadtverordnetenversammlung besaß »unbeschränkte Vollmacht in allen Angelegenheiten des Gemeinwesens«[4].

Doch die Preußen hatten keine Lust. Der Blick auf die Wahlpraxis kann erklären, warum dem so war: Die Wahl zog sich furchtbar in die Länge.

Die Wahlversammlungen fanden in den Kirchen statt, gerahmt von einem feierlichen Gottesdienst. Erst nach einer Predigt, frommen Liedern, dem Verlesen aller Namen der Wahlberechtigten und nach der Aufstellung der Bewerber für das Amt konnte die Wahl beginnen. Nun folgte für jeden einzelnen Kandidaten eine eigene, umständliche Abstimmung, sodass sich der Wahlvorgang manchmal bis in den nächsten Tag hineinzog. Die Bürger aber forderten kürzere Predigten und neutralere Lieder, sodass Juden und Andersdenkende nicht verprellt wurden; ihnen war die Zeit zu schade.[5]

Bestätigte sich hier schon, zu Beginn der Geschichte moderner Wahlen, die Unfähigkeit der Deutschen zur Demokratie? Die Wahlunlust zeigte sich aber auch in den anderen Ländern, in denen allgemeine Wahlen eingeführt worden waren. In Frankreich klagten die Behörden 1813 nach einer Wahlbeteiligung von fünf Prozent, dass es der Bevölkerung wahrscheinlich gleichgültig wäre, wenn man ihnen das Wahlrecht entzöge.[6] Dänemark führte 1837 aufgrund der geringen Beteiligung die Wahlpflicht ein.[7] Auch in den USA regte sich wenig demokratischer Gemeinsinn. Hier gingen nicht selten weniger als ein Drittel der Wahlberechtigten zur Stimmabgabe.[8]

Offensichtlich bedeutete das Wahlrecht für einen Großteil der Menschen nicht ein mit Leidenschaft erkämpftes Recht – wovon Forschung und Öffentlichkeit oft mit großer Selbstverständlichkeit ausgehen. Vielmehr erweisen sich Wahlen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts häufig als ein hoheitliches Projekt, dem sich die Bürger mit wenig Elan fügten – oder auch zu entziehen versuchten.

Wahlen als Disziplinierungsinstrument der Eliten

Wenn jedoch der Impuls für Wahlen und Mitbestimmung vonseiten der Regierenden kam: Welches Interesse verfolgten sie damit? Zugespitzt lautet die Antwort: Wahlen leisteten nicht nur durch ihre Legitimierungsfunktion einen wichtigen Beitrag zur Bildung des modernen Staates. Wahlen integrierten auch jeden einzelnen Bürger, banden ihn an den Staat, und sie sicherten den Zugriff des Staates auf ihn.

Denn in Preußen, den USA, Frankreich oder Österreich – überall erfassten die Wahlregister nicht nur die Namen, sondern in aller Regel auch das Alter, den Wohnort, den Beruf und häufig auch den Besitz des Mannes. Jede Wahl war eine Volkszählung im Kleinen. Wählerregister trugen damit zur immer genaueren Definition des Bürgers bei, zu seiner Identifizierung als Staatsangehöriger und zur Festlegung von Zugehörigkeit.

Auch die Verbindung der Wahlen mit der neuen Lehre der Statistik und die enge Kopplung des Wahlrechts an die Wehrpflicht verdeutlichen den Nutzen der Wahlen für die Regierenden.[9] All das war Teil der Konstruktion des modernen Staates.

Neben diesen konkreten Formen der Disziplinierung und Registrierung trugen Wahlen dazu bei, die freiwillige Selbstdisziplinierung der Bürger zu fördern. Schon lange hat die Forschung darauf verwiesen, wie im modernen Staat »Machttechnologien in ›freie Entscheidungen‹ des Subjekts übersetzt werden«[10]. Moderne Staaten erwiesen sich schlicht als zu groß und als zu komplex, um von einer kleinen Führungsschicht gelenkt zu werden. Sie bedurften der Mitarbeit aller. In der Präambel zur preußischen Städteordnung heißt es, sie habe den Zweck, »Gemeinsinn zu erregen«.

Thomas Jefferson kommentiere die bürgerliche Mitbestimmung ähnlich: Sie sei die einzige Regierungsform, »in der jedermann, dem Aufruf des Gesetzes folgend, […] Übergriffe gegen die öffentliche Ordnung als seine persönliche Angelegenheit ansehen dürfte«[11]. Auch Napoleon diente das allgemeine und gleiche Wahlrecht als Instrument der Integration. Wahlen banden die Untertanen an seine Macht, aber sie sorgten auch dafür, dass die einzelnen Regionen effizienter agieren konnten, ohne ständig der Intervention von oben zu bedürfen.[12]

Der Zusammenhang von guten Staatsbürgern und deren Einbindung über Selbstbestimmungstechniken war seit der Aufklärung weltweit bei Eliten anerkannt. »Ein schwachsinniger Despot kann Sklaven mit eisernen Ketten zwingen; ein wahrer Politiker jedoch bindet sie viel fester durch die Kette ihrer eigenen Ideen«[13], heißt es in einer typischen Aussage des französischen Aufklärers Joseph Michel Antoine Servan.

»Gedämpftes Interesse an Politik« ist keine Bedrohung

Wir können uns den Einbruch, der mit demokratischen Ideen und mit der Gleichheitsidee in die Welt kam, gar nicht dramatisch genug vorstellen. Die amerikanische und die Französische Revolution hatten das Undenkbare möglich gemacht und die Welt auf den Kopf gestellt. Der Historiker Leopold von Ranke urteilte 1854 über die amerikanische Unabhängigkeit: »Dies war eine größere Revolution, als früher je eine in der Welt gewesen war, es war eine völlige Umkehr des Prinzips. Früher war es der König von Gottes Gnaden, um den sich alles gruppierte, jetzt tauchte die Idee auf, dass die Gewalt von unten aufsteigen müsse.«[14]

Der Disziplinierungseffekt von Wahlen ist also zwiespältig: Die Übersetzung der Machttechnologien in »freie Entscheidungen« kann als heimtückischer Vorgang gelesen werden, bei dem es letztlich um die Unterwerfung der Subjekte geht. Doch er lässt sich auch schlicht als eine Machtform interpretieren, von der alle profitieren.

Womöglich ist viel an dem dran, was Benjamin Constant 1819 angesichts des bürgerlichen Desinteresses feststellte. Er hielt ein gedämpftes Interesse an Politik für keine Bedrohung der Gesellschaft, da in modernen Zeiten »jeder einzelne mit seinen Plänen, Unternehmungen sowie dem Genuß dessen, was er errungen hat, oder der Vorfreude auf Erhofftes beschäftigt ist und nur möglichst kurze Zeit […] von alledem abgelenkt werden möchte«[15]. Auf jeden Fall können wir vermuten, dass sich Massenwahlen, wie sie heute global praktiziert werden, kaum durchgesetzt hätten, wenn sich nicht um 1900 die faszinierend zeitsparende Technik mit dem Stimmzettel entwickelt hätte, die jeder Bürgerin und jedem Bürger nur noch wenige Minuten abverlangt.[16]

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Autor:innen

Hamburger Institut für Sozialforschung

Forschungsschwerpunkte
Demokratie, Migration, Geschlecht und Religion in der europäischen und US-amerikanischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts

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