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Werbung

Verräterisches Schweigen

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Werbung hat vor allem die Funktion, über käufliche Produkte und Dienstleistungen zu informieren. Darüber hinaus soll sie die Betrachter dazu motivieren, sich für das Angebotene zu interessieren, ihm gegenüber positive Gefühle zu entwickeln und es schließlich haben zu wollen.

Das geschieht zum einen dadurch, dass das Produkt selber vorteilhaft beschrieben und dargestellt wird. Zum anderen dadurch, dass in den Anzeigen und TV-Spots allgemeine gesellschaftliche Ideale sowie die Wünsche und Vorstellungen der Zielgruppe in Wort und Bild in Szene gesetzt werden. Die Werbebotschaft lautet: Mit dem angepriesenen Produkt wirst du so schön, erfolgreich und glücklich wie die hier gezeigten Menschen.

Werbung als Quelle für Gesellschaftsstudien

Aufgrund dieser Inszenierungen gesellschaftlicher Vorstellungen von Glück werden alte und neue Werbetexte von Sprachwissenschaftlerinnen und Historikern gerne als Quelle für Gesellschaftsstudien benutzt. Bild und Text werden daraufhin untersucht, welche gesellschaftlichen Ideale darin widergespiegelt werden.

Methodisch geschieht das unter anderem durch die Analyse von Schlüsselwörtern. Welche Wörter oder Wortgruppen kommen wie oft vor? Im historischen Rückblick zeigt sich zum Beispiel, dass im 17. Jahrhundert noch häufig »mirakulöse« Dinge verkauft wurden, ein Adjektiv, das im Zeitalter der Aufklärung mitsamt dem Wunderglauben verschwindet. In den 1960er Jahren waren die Dinge »modern« und »fortschrittlich«, heute sind sie »natürlich« oder »nachhaltig«.

Das sind starke Anzeichen für einen Mentalitätswandel, weg vom Fortschrittsglauben, hin zur Idealisierung des Natürlichen. Neben den Schlüsselwörtern werden untersucht:

  • die Wortbildung (Wortneuschöpfungen wie »atmungsaktiv« oder »Windpark«)
  • die Verwendung von Fremdsprachen (früher Französisch, heute Englisch)
  • der Satzbau (Fragesätze, Befehlssätze, unvollständige Sätze...)
  • die Rhetorik (Wortspiele, Metaphern, Dreierfiguren...)
  • der Sprachstil (Reime, Fachsprache, Jugendsprache...)
  • die Typografie (Schriftarten, Farben...)
  • die Bilder (Inhalt, Komposition, Darstellung...)


Doch mit den aufgeführten sprachwissenschaftlichen Analysemethoden, so bewährt und präzise sie auch sind, erfassen wir nur das, was in einem Werbetext ausdrücklich dasteht beziehungsweise abgebildet ist. Die in aller Regel knappen Aussagen der Werbung ruhen jedoch auf einem breiten Fundament von Wissen und Überzeugungen, die im Text nicht geäußert werden. Sie werden bei den Betrachtern schlicht und ergreifend vorausgesetzt.

Werbeanzeigen für Präparate zur Steigerung von Konzentration und Leistungsfähigkeit beispielsweise werfen nicht die Frage auf, ob uneingeschränkte Leistungsfähigkeit bis ins hohe Alter notwendig und sinnvoll sei; sie setzen das vielmehr voraus.

Daher soll im Folgenden aufgezeigt werden, dass gerade das nicht Gesagte besonders starke normierende Kraft hat, weil es einen gesellschaftlichen Konsens über Fragen voraussetzt, die umstritten wären, würde man sie thematisieren. Um sich dem nicht Gesagten zu nähern, sind ein paar Fachbegriffe hilfreich, die im Folgenden erläutert werden.

Wir verstehen mehr als wir sagen

Von einer Implikation sprechen wir, wenn aus dem, was dasteht, aufgrund inhaltlich oder grammatisch logischer Zusammenhänge auf das geschlossen werden kann, was nicht dasteht. Der Satz »Maria kam aus München zurück« impliziert, dass sie zuvor nach München gereist war. Im »Spiegel« vom 6. Juni 2015 wirbt ein Autohersteller mit den Sätzen: »231 Gründe, nicht den Bus zu nehmen. [...] Machen Sie sich bereit für 231 PS (170kW) und folgen Sie Ihrem eigenen Fahrplan.« Diese Sätze implizieren, dass Busse nach festen Fahrplänen verkehren und dass dies nicht etwa vorteilhaft ist, sondern ein Nachteil.

Die Nutzung unterbewusster Ideale

Unter Präsuppositionen verstehen wir all jene Wissenselemente und Überzeugungen, die für das Verstehen eines Textes vorausgesetzt, aber im Text selber nicht erwähnt werden. Teilweise werden Präsuppositionen durch die Wortwahl angezeigt. Im Satz: »Die Grünen haben den Einzug ins Parlament geschafft« deutet der Ausdruck »es schaffen« darauf hin, dass es nicht leicht war, genügend Stimmen zu bekommen.

Die heutige Werbung ist reich an Präsuppositionen. Oft bildet der vorhandene Text nur die Spitze eines Eisbergs von Wissenselementen, Überzeugungen und Idealen, die bei den Lesenden stillschweigend vorausgesetzt werden. Ein Bierhersteller wirbt in der Alpinzeitschrift »Bergauf« für ein alkoholfreies Bier mit der Abbildung eines Mountainbikers und den Worten: »Erfrischend. Sportlich. 100% Leistung. 100% Regeneration.« Dieser Text ist nur für Lesende verständlich, die wissen, dass in unserer Gesellschaft viele Menschen in der Freizeit freiwillig sportliche Höchstleistungen erbringen und sich danach rasch wieder regenerieren und mit einem erfrischenden Bier belohnen wollen. Wirksam ist diese Werbebotschaft nur für Betrachter, die das Ideal der Leistungsbereitschaft teilen.

Präsuppositionen sind für eine linguistische Analyse deswegen so interessant, weil sie erkennen lassen, was die Verfasser eines Textes für so selbstverständlich erachten, dass sie es gar nicht thematisieren, sondern als gegeben behandeln.

Was die Gesellschaft sowieso erwartet, muss nicht formuliert werden

Jede Gesellschaft gibt ihren Mitgliedern zu verstehen, welche Überzeugungen und Verhaltensweisen sie für richtig und gut befindet. Das geschieht häufig explizit über Gesetze, Normen, Regelwerke, Verhaltenskodizes, Lehrpläne, Ermahnungen, Lob und Tadel. Welche Gesetze oder Lehrpläne gelten sollen, darüber wird von den Parlamenten bis zu den Stammtischen immer wieder heftig debattiert.

Von anderen Instanzen jedoch wird das, was man von uns erwartet, eher implizit vermittelt, zum Beispiel von Lifestyle-Magazinen. Sie machen bekannt, welche Sportarten, Elektronikgeräte, Wohnungseinrichtungen, Reiseziele oder Fahrräder gerade angesagt sind, geben Empfehlungen zu Kleidung, Frisur und Schminke ab und prägen durch die Wahl der Models Körperideale. Mann und Frau lernen durch die Lektüre, dass es sozial angemessen ist, fit und schlank zu sein, sich die Haare zu färben, bestimmte Schuhe zu tragen und im Urlaub ans Meer zu fliegen. Lifestyle-Magazine definieren mit, was in unserer Gesellschaft ganz einfach »normal« ist.

Die Werbung spielt eine mächtige Rolle in diesem Normalisierungsprozess, indem sie gesellschaftliche Ideale nicht thematisiert, sondern voraussetzt. Sie kann nur deswegen so erfolgreich Nahrungsergänzungsmittel, Sportartikel, Kosmetika oder Weiterbildungen anpreisen, weil sie stillschweigend davon ausgeht, dass Gesundheit, Sportlichkeit, Schönheit und Karriere von allen angestrebte Werte sind, über die man gar nicht diskutieren muss.

Mit welchem Erfolg die Werbung schon den Kleinsten vermittelt, was »normal« ist und was nicht, merkt jede Mutter, die versucht, ihren Sohn in violette Stiefel zu stecken.

Mit welchem Erfolg die Werbung schon den Kleinsten vermittelt, was »normal« ist und was nicht, merkt jede Mutter, die versucht, ihren Sohn in violette Stiefel zu stecken. Der Protest, er sei doch kein Mädchen, ist ihr sicher.

Der Urlaub als effektive »Auszeit«

Ein Hotel im Kanton Graubünden wirbt in der Alpinzeitschrift »Die Alpen« vom Juni 2015 mit folgendem Text (Ausschnitt): »Blitz! Auszeit [...] Hin und weg in kürzester Zeit. Bei uns fühlen Sie sich schon ab dem ersten Moment wie zu Hause und haben daher noch genug Zeit Ihre Seele baumeln zu lassen und Energie für den Alltag zu tanken.« Dann folgt das konkrete Angebot mit zwei Übernachtungen, Vier-Gänge-Abendessen, Bergbahnticket, Massage und anderes mehr. Auf den vier Bildern sind das Hotel von außen mit Grünanlage, eine Suite von innen, ein Frühstückstisch mit zwei Proseccogläsern und ein Ruheraum mit vier Liegen zu sehen.

Auf der expliziten Ebene bietet dieses Hotel zwei Übernachtungen mit vielen zusätzlichen Dienstleistungen an, geeignet, eine Auszeit zu nehmen und Energie zu tanken. Doch was geschieht auf der impliziten Ebene?

In diesem Text gibt es verschiedene Implikationen:

  • Dass man sich in diesem Hotel angeblich sofort »wie zu Hause« fühlt, impliziert, dass Menschen sich offenbar nicht gerne »in der Fremde« fühlen, nicht einmal, wenn sie extra von zu Hause fort an einen fremden Ort gefahren sind.

  • Der Ausdruck »Energie tanken« legt nahe, dass Menschen wie Benzinmotoren funktionieren, denen die Energie ausgehen kann, die man aber relativ leicht wieder volltanken kann.

  • Die Angabe des Preises »pro Person im Doppelzimmer« verrät, dass man davon ausgeht, dass Menschen grundsätzlich zu zweit in den Urlaub fahren.

Kommen wir zu den Präsuppositionen. Der Werbetext geht davon aus, dass der Alltag den Menschen so viel Energie abverlangt und ihre Seele so anstrengt, dass sie zwischendurch eine Auszeit brauchen, in welcher sie Körper und Geist wieder fit machen, um dann im Alltag wieder die gewohnte Leistung erbringen zu können. Das muss aber »in kürzester Zeit« geschehen, denn Zeit hat offensichtlich auch niemand. Daher wird ein Angebot für nur zwei Übernachtungen zusammengestellt und mit »Blitz! Auszeit« betitelt.

Was ist nun die normalisierende Wirkung dieser Anzeige? Sie vermittelt den Betrachtern, dass sie nichts falsch gemacht haben, wenn sie nie Zeit haben und ausgepumpt sind, sondern dass es normal ist, sich im Alltag so anzustrengen, dass man seine Energie verliert. Als Gegenmittel und Belohnung gönnt man sich dafür ab und zu zwei Wellnesstage zu zweit in einem Luxushotel in den Bergen.

Das Ungesagte ins Gespräch bringen

Die Werbung bietet uns Produkte und Dienstleistungen an, einerseits mit handfesten Informationen, andererseits mit sogenannten Zusatznutzen wie Genuss und Erfolg. Das ist für sich genommen nicht verwerflich. Das Problematische an der Werbung liegt darin, dass sie auf eine ganz implizite Weise Lebenseinstellungen, Verhaltensweisen, Ideale und gesellschaftliche Erwartungen prägt, die durchaus fragwürdig sein können. Indem die Werbung diese Überzeugungen nicht benennt, sondern voraussetzt, ist sie eine mächtige Akteurin im gesellschaftlichen Diskurs um das Richtige und Gute. Das nicht Gesagte hat die stärkste normalisierende Kraft.

Eine sprachwissenschaftliche Analyse sollte daher nicht nur das analysieren, was dasteht, sondern auch das, was nicht dasteht. Ihre Aufgabe ist es, das Ungesagte explizit und damit die zuvor unausgesprochenen Ideale und Normen der gesellschaftlichen Diskussion wieder zugänglich zu machen.

Fußnoten

  1. Wie durch ein Wunder bewirkt; wunderbar.
  2. Vgl. Bendel, Sylvia: Werbeanzeigen von 1622-1798. Entstehung und Entwicklung einer Textsorte, Tübingen 1998. (Reihe Germanistische Linguistik, Bd. 193)
  3. Vgl. Janich, Nina: Werbesprache: ein Arbeitsbuch, 6. durchges. u. korr. Auflage, Tübingen 2013.
  4. Vgl. Bendel Larcher, Sylvia: Werbekommunikation diskursanalytisch, in: Janich, Nina (Hrsg.): Handbuch Werbekommunikation. Sprachwissenschaftliche und interdisziplinäre Zugänge, Tübingen 2012, S. 229-241.
  5. Vgl. Bendel Larcher, Sylvia: Wie Werbung wirkt: Konzept einer wissenschaftlich fundierten Kritik von Werbetexten, in: aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur (8)2012, H. 2, S. 112-132.

Autor:innen

Hochschule Luzern

Forschungsschwerpunkte
Textlinguistik
Gesprächsforschung
Diskursanalyse
Werbung
Unternehmenskommunikation
Rhetorik

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