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USA

Erosion der amerikanischen Vorbild-Demokratie

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Die Freiheit, personifiziert durch die römische Göttin Libertas, grüßt auf Ellis Island vor New York die Ankommenden in der Neuen Welt, die sich seit mehr als zweihundert Jahren aufmachen, um die Fesseln der Despotie in der Alten Welt hinter sich zu lassen. Die Freiheitsstatue sollte im besten aufklärerischen Sinne die Welt erleuchten. Es ist bezeichnend, dass Intellektuelle des revolutionären Frankreichs in den Vereinigten Staaten ein Vorbild für ihre demokratische Entwicklung sahen.

Besonders die Europäer, allen voran die Deutschen, sind mehrheitlich der Meinung, dass die USA nicht mehr für Freiheit stehen

Trotz oder vielmehr wegen ihrer Ausnahmestellung und Fülle an militärischer und geheimdienstlicher Macht, sogenannter harter Macht, haben die USA an Anziehungskraft, an weicher Macht, verloren. In weltweiten Umfragen wird deutlich, dass immer weniger Menschen die USA mit Freiheit assoziieren. Im Gegenteil: Ein Großteil der Weltbevölkerung sorgt sich, dass Amerika persönliche Freiheitsrechte seiner Bürger, aber insbesondere jene von Ausländern, über Gebühr einschränkt. Besonders die Europäer, allen voran die Deutschen, sind mehrheitlich der Meinung, dass die USA nicht mehr für Freiheit stehen.

Das ist eine durchaus realistische Einschätzung; sie sollte nicht als Antiamerikanismus missverstanden werden. Denn auch die meisten Amerikaner bescheinigen ihrer Regierung, dass sie ihre persönlichen Freiheitsrechte nicht mehr respektiert. Gleichwohl halten es sechs von zehn US-Bürgern für gerechtfertigt, dass ihre Regierung mutmaßliche Terroristen foltert.

Im Zuge des globalen Krieges gegen den Terror hat der damalige Präsident George W. Bush als oberster Befehlshaber vor allem bei der inneren Sicherheit seine Handlungsmacht auf Kosten der Legislative und Judikative ausgeweitet. Die eigenmächtigen Einschränkungen persönlicher Freiheitsrechte, insbesondere der Habeas-Corpus-Rechte mutmaßlicher Terroristen, verdeutlichen die Defizite der einstigen Vorbild-Demokratie USA.

1.100 getötete Zivilisten durch 650 Drohnenangriffe

Heute, unter Bushs Nachfolger Barack Obama, werden Terrorverdächtige nicht mehr ohne Gerichtsurteil in »vorbeugende Haft« (preventive detention) genommen. Mit ihnen wird gleich an Ort und Stelle kurzer Prozess gemacht: Mutmaßliche Terroristen – und häufig auch andere Menschen, die zur falschen Zeit am falschen Ort sind – werden weltweit, im globalen Krieg gegen den Terror, mit Drohnen getötet.

Allein durch die knapp 650 Drohnenangriffe in Pakistan, Somalia und Jemen sind nach Angaben des Bureau of Investigative Journalism über 1.100 Zivilisten getötet worden, darunter 225 Kinder. Unter Barack Obamas Präsidentschaft sind weltweit die gezielten Tötungen des US-Militärs, aber auch der Central Intelligence Agency (CIA) fortgeführt, ja forciert worden.

Die amerikanische Demokratie läuft Gefahr, ihren liberalen Charakter im Zuge des globalen Krieges gegen den Terror preiszugeben

Im weltweiten Krieg gegen den Terror – der trotz etwas veränderter Rhetorik unter Amtsnachfolger Obama andauert – können Präsidenten nunmehr die dominante Rolle des Oberbefehlshabers einnehmen und bei Bedarf oder im Notfall die Gewaltenkontrolle aushebeln. Unter dem Vorzeichen der nationalen Bedrohungswahrnehmung kann die Regierungsgewalt, insbesondere die des Präsidenten, erheblich erweitert werden. Solange der Kongress am kürzeren Hebel sitzt, weil ein Großteil der US-Bevölkerung in Angst lebt, funktioniert die Gewaltenkontrolle nur unzureichend. Die amerikanische Demokratie läuft dadurch Gefahr, ihren liberalen Charakter im Zuge des globalen Krieges gegen den Terror preiszugeben.

Amerika ist verunsichert. Seit den traumatischen Anschlägen vom 11. September 2001, als mit dem Pentagon und dem World Trade Center auch die Symbole der militärischen und wirtschaftlichen Macht beschädigt beziehungsweise zerstört wurden, fühlen sich seine Bewohner nicht mehr auf der Insel der Glückseligen, von den beiden Ozeanen geschützt. Seit dem Platzen der Immobilienblase 2007/08 und der damit ausgelösten weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise ist auch der amerikanische Traum von der Eigentümergesellschaft und vom sozialen Aufstieg ausgeträumt.

Das Ende des amerikanischen Traums

Steigende soziale Ungleichheit, sinkende soziale Mobilität, eine Regierung von überwiegend Millionären, die im wirtschaftlichen Interesse ihrer noch betuchteren Wahlkampffinanciers Laissez-faire-Politik betreiben, sowie die politische Ohnmacht eines Großteils der Bevölkerung prägen die heutige Realität der USA.

Heute haben viele Amerikaner nicht mehr die Möglichkeit, am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben, geschweige denn am politischen Geschehen teilzunehmen. Gemessen am »Demokratieindex« des britischen »Economist« sind die USA im internationalen Vergleich mittlerweile weit zurückgefallen. Die ehemalige Vorbild-Demokratie ist gerade noch unter den Top 20 zu finden. Unter anderem ist auch das Kriterium »politische Teilhabe« besonders problematisch. Der Wert liegt nur noch hauchdünn über der Grenze zur unvollständigen Demokratie mit beträchtlichen Fehlfunktionen.

Woran liegt das? Immer mehr Amerikanern fehlt es an der sozioökonomischen Grundausstattung, die sie befähigen würde, aus dem nur noch für wenige unbegrenzten Angebot an Gütern und Dienstleistungen auszuwählen. Ihre persönliche Notlage und schlechte Ausbildung hindern sie daran, Arbeit zu finden, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Ihre miserable Lage entmutigt sie auch, politisch aktiv zu werden.

Zwar haben im »Land der Freien« die Besitzenden seit jeher den Ton angegeben. Schon die vermögenden Gründerväter, die Architekten der amerikanischen Verfassung, wahrten mit der Konstruktion der US-Verfassungsstrukturen ihre Besitzstände und schlossen den Großteil der Bevölkerung (insbesondere Schwarze und Frauen) von der politischen Teilhabe aus. Die Industrialisierung gipfelte in der Konzentration wirtschaftlicher und politischer Macht. Schon vor etwa hundert Jahren, im Vergoldeten Zeitalter, waren die USA im Griff der »Räuberbarone«. Die Macht der Trusts, der Monopole von Rockefeller, Carnegie und anderer Industriegiganten, wurde erst durch die progressive Bewegung gebrochen, die sich aufmachte, die Politik von Korruption zu säubern. Die Verfassung wurde innerhalb von zehn Jahren dreimal geändert. Frauen erhielten das Wahlrecht, wirtschaftliche Aktivitäten wurden besteuert und reguliert.

Heute wäre eine neue progressive Bewegung nötiger denn je

Wirtschaft und Politik in den USA werden wieder von Ölmagnaten, vom militärisch-industriellen Komplex, von Immobilien- und Finanzimperien und den Giganten der Medien und der Informationstechnologie beherrscht. Zu den »Räuberbaronen« alter Schule haben sich mit den Herrschern von Google und Apple die Neureichen, die »Silikonsultane« gesellt: »Die Informationstechnologie-Milliardäre von heute haben viele Gemeinsamkeiten mit der vorherigen Generation kapitalistischer Titanen – vielleicht mehr, als ihnen bekommt«, schreibt der Economist in seinem lesenswerten Bericht über die neuen »Übermenschen« der USA.

Freiheitsbeschneidung durch Beschränkung von Wahlmöglichkeiten

Auf den sogenannten freien Märkten werden die Wahlmöglichkeiten der Konsumenten immer mehr eingeschränkt. Die Marktmacht weniger Anbieter, etwa im Bereich der Informationstechnologie, der Wirtschaftsimperien Google und Amazon, die sich aufschwingen, den Vertrieb von Gütern, darunter auch demokratierelevante wie Zeitungen und Bücher, zu monopolisieren, beschneidet heute schon die Freiheit des Bürgers. Bald wird auch der Kunde nicht mehr König sein, wenn vom Volke nur noch politische Ohnmacht ausgeht.

Mit seinen Urteilen zur Wahlkampffinanzierung eröffnet der Supreme Court Politunternehmern unbegrenzt Möglichkeiten, durch Milliardenbeträge die Politik in ihrem Sinne zu beeinflussen

Wieder einmal wird es spannend in der amerikanischen Demokratie: Louis Brandeis, der von 1916 bis 1939 als Mitglied des Obersten Gerichts, des Supreme Court, die progressive Bewegung unterstützte und gegen mächtige Konzerne, Monopole und Korruption kämpfte, war davon überzeugt, dass Demokratie nicht Bestand haben könne, wenn einige wenige so viel Reichtum und politische Macht auf sich vereinen. Die meisten seiner heutigen Nachfolger am Supreme Court haben diesbezüglich weniger Bedenken: Mit ihren Urteilen zur Wahlkampffinanzierung beispielsweise eröffnen sie Politunternehmern unbegrenzt Möglichkeiten, durch Milliardenbeträge ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Ausdruck zu verleihen – und damit die Politik in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Mit Begriffen wie »Post-Demokratie« oder »Demokratie-Fassaden« versuchen Sozialwissenschaftler, die politische Entmündigung der Bürger in Worte zu fassen. Wir haben es nicht mit einer akuten Krise der liberalen Demokratie zu tun, denn dafür dauert der schleichende Prozess des sozioökonomisch begründeten Ausschlusses vieler Bürger von der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung schon zu lange. Vielmehr ist das demokratische Fundament bereits ausgehöhlt worden.

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Fußnoten

  1. Dieser Begriff wurde vom amerikanischen Politikwissenschaftler Joseph Nye geprägt.- S. bspw. Nye, Joseph: Bound To Lead. The Changing Nature of American Power, New York 1990.
  2. Vgl. Wike, Richard; Stokes, Bruce; Poushter, Jacob: Global Publics Back U.S. on Fighting ISIS, but Are Critical of Post-9/11 Torture, auf: pewglobal.org ( 23.06.2015).
  3. Vgl. ebd.
  4. Das Recht, seine Inhaftierung vor einem Gericht überprüfen zu lassen.
  5. Ausführlicher in Braml, Josef; Lauth, Hans-Joachim: The United States of America – A Deficient Democracy, in: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft (ZfVP-Sonderheft Nr. 1/2011), S. 103-132.
  6. Zahlen zit. nach Chatterjee, Pratap: Our Drone War Burnout, in: New York Times (14.07.2015), S. A21.
  7. Vgl. The Economist Intelligence Unit: Democracy Index 2015; o.A.: Democracy in an Age of Anxiety, London 2016, auf: eiumedia.com (21.01.2016).
  8. Vgl. O.A.: Self-made wealth in America. Robber barons and silicon sultans, auf: economist.com (03.01.2015).
  9. So setzt Amazon bereits heute Verlage unter Druck, um bessere Konditionen, insbesondere bei E-Books, zu erhalten, indem es etwa deren Bücher nicht mehr ausliefert. Zudem versucht Audible, eine Tochterfirma von Amazon, seine Marktmacht – einen Marktanteil von 90 Prozent beim Verkauf digitaler Hörbücher – auszunutzen, um Verlage in ein Flatratemodell zu drängen.
  10. Crouch, Colin: Postdemokratie, Frankfurt a. M. 2008, engl. Originalausgabe Cambridge 2005.
  11. Streeck, Wolfgang: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013.
  12. So auch der Demokratieforscher Wolfgang Merkel: Erosion nicht Krise, in: ders. (Hrsg.): Demokratie und Krise. Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie, Wiesbaden 2015, S. 496.

Autor:innen

Redaktioneller Leiter und Herausgeber des Jahrbuchs der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V.

Forschungsschwerpunkte
Amerikanische Weltordnungsvorstellungen und transatlantische Beziehungen
Sicherheits-, Energie- und Handelspolitik der USA
Wirtschaftliche und innenpolitische Rahmenbedingungen amerikanischer Außenpolitik
Vergleichende Governance-Analyse

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