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6 Fakten: Reformen in Polen

Die Presse bleibt frei

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KATAPULT: Am 25. Oktober 2015 fanden die Parlamentswahlen in Polen statt. Eindeutig stärkste Partei war mit etwa 38 Prozent »Recht und Gerechtigkeit« (PiS – Prawo i Sprawiedliwo??). Sie hat die absolute Mehrheit an Sitzen im Parlament. Wie würden Sie die Partei beschreiben? In welche politische Kategorie würden Sie sie einordnen?

Matthes: Die PiS kann man in gewisser Weise mit der CSU vergleichen. Sie pflegt einerseits ein konservatives Gesellschaftsbild und hält familiäre sowie nationale Werte hoch. Gleichzeitig stellt sie, zumindest rhetorisch, sozialpolitische Themen in den Vordergrund. Die PiS hat eine Rücknahme der Rentenreform der Vorgängerregierung, die das Renteneintrittsalter erhöht hatte, angekündigt sowie eine Steuer- und eine Bildungsreform und mehr Ausgaben für Familien.

Sie ist allerdings auch eine sehr vergangenheitsorientierte Partei, die einen gewissen Opfermythos pflegt. Das spiegelt sich beispielsweise darin wieder, dass der Flugzeugabsturz in Smolensk von 2010 immer thematisiert wird, auch im Wahlkampf. Bei dem Unfall kam unter anderem Lech Kaczy?ski, der Bruder des Vorsitzenden der PiS und frühere Staatspräsident Polens, ums Leben. Man glaubt der Kommission nicht, die damals die Umstände des Absturzes geklärt hatte. Man ist immer wieder der Meinung, dem Ganzen liege eine Verschwörung zugrunde.

Zugleich vertritt PiS die Ansicht, dass polnische Werte wieder mehr Bedeutung erlangen sollten. Dazu passt auch eine Floskel, die anlässlich der Regierungseinführung verwendet wurde, dass die »Konsolidierung der polnischen Volksgemeinschaft« wieder vonnöten sei. Man verbindet nationale Werte mit der Vorstellung, dass man in Europa nicht ausreichend ernst genommen wird und nicht genug Aufmerksamkeit erhält.

KATAPULT: In Polen gibt es viele konservative und EU-kritische Parteien. Die »Vereinigte Linke« (ZL – Zjednoczona Lewica) hat bei der Parlamentswahl im Vergleich zu 2011 über 10 Prozent verloren – die Wahlbeteiligung lag bei etwa 50 Prozent. Gibt es gesellschaftlichen oder politischen Gegenwind? Oder spiegeln die Wahlen die Meinung der Polen wider? Und ist der politische Kurs mit der derzeitigen »Flüchtlingskrise« zu erklären oder ist die konservative Haltung eine typisch polnische?

Matthes: Zum einen kann man Polen als eine gespaltene, polarisierte Gesellschaft bezeichnen. Das wird auch immer wieder bei verschiedenen Wahlen deutlich.

So gibt es einen Nordwesten, der bislang mehrheitlich für die »Bürgerplattform« (PO – Platforma Obywatelska) gestimmt hat, die eher als liberal-konservativ gilt. Diese ist nicht sozialdemokratisch, hat aber in gesellschaftlicher Hinsicht durchaus liberale Haltungen und ist pro-europäisch.

Im Südosten Polens hingegen hat man mehrheitlich für die PiS gestimmt. Man kann also eine Teilung des Landes beobachten, die jedoch nicht allein geografisch zu erklären ist, sondern dadurch, dass der Nordwesten Polens stärker industrialisiert ist. Hier liegen auch größere Städte, die stärker vom Wirtschaftsaufschwung profitiert haben als ländliche Regionen, wobei auch diese durch Polens EU-Mitgliedschaft einen gewissen Modernisierungsschub erlebt haben.

Die ökonomische Lage der Kleinbauern, die früher eher EU-skeptisch waren, hat sich aufgrund der sehr guten Verhandlungen Polens und der sehr umfangreichen Mittel aus den Struktur- und Kohäsionsfonds durchaus verbessert.

Die Polarisierung Polens spiegelt sich auch in der Haltung zur kommunistischen Vergangenheit wider. Die beiden große Parteien – PO und PiS – sind aus der ehemaligen Oppositionsbewegung, der Solidarno??, hervorgegangen. Während die PO den damaligen Kompromiss mit der früheren Kommunistischen Partei als Errungenschaft ansieht, der den friedlichen Machtwechsel ermöglichte, lehnt die PiS diesen ab und sieht sich als die wahre Opposition gegenüber den alten Eliten.

Um ihre Anhänger politisch zu mobilisieren, nutzt die PiS immer noch Themen der Lustration und der Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit.

Was die politische Haltung der Gesellschaft betrifft, so muss man zunächst feststellen, dass die Wahlbeteiligung mit 50 Prozent aus deutscher Perspektive relativ gering erscheint. Aus polnischer Sicht jedoch ist das eher eine normale Wahlbeteiligung.

Es gibt einen großen Anteil in der Bevölkerung, der von jeglichen Parteien enttäuscht ist. Das erklärt auch, warum es bei jeder Wahl neue kleinere Parteien gegeben hat. Beispielsweise bei der letzten Parlamentswahl: die »Kukiz-Bewegung« (Kukiz'15 – Ruch Kukiza), die versucht, in dem rechts-nationalen, europa-skeptischen Bereich der Bevölkerung Stimmen abzugreifen; oder die »Moderne« (.N – Nowoczesna Ryszarda Petru), die liberale und rechtsstaatliche Werte noch stärker propagiert, als die PO. Häufig verschwinden diese kleinen Parteien aber bis zur nächsten Wahl wieder.

Linke Parteien leiden zum Einen nach wie vor darunter, dass das aus der kommunistischen Partei hervorgegangene »Bündnis der Demokratischen Linken« (SLD – Sojusz Lewicy Demokratycznej) aufgrund von Korruptionsskandalen und einer schlechten Regierungsführung sein Ansehen verloren und sich seitdem nicht wesentlich reformiert hat. Insgesamt hat das Linke Bündnis, das durchaus auch Leute aus dem liberalen Lager gewinnen konnte, nicht ausreichend überzeugt.

Zusammengefasst: Die polnische Gesellschaft ist meiner Meinung nach nicht grundsätzlich nationalistisch oder gesellschaftspolitisch konservativ. Man kann aber sagen, dass es zwei Lager in der Gesellschaft gibt. Das ist vielleicht ein wenig vergleichbar – wenngleich das natürlich ein anderer Kontext ist – mit den USA, wo es auch zwei politische Lager gibt, die sich relativ unversöhnlich gegenüberstehen.

Eine große Mehrheit von über 70 Prozent der Bevölkerung unterstützt jedoch die Idee der parlamentarischen Demokratie und lehnt Maßnahmen ab, die den rechtsstaatlichen Charakter der polnischen Verfassung untergraben.

KATAPULT: Die neue Regierung hat vor kurzem das Verfassungsgericht reformiert und dessen Handlungsfähigkeit eingeschränkt. Nun wurde die Medienreform beschlossen, die das öffentlich-rechtliche Fernsehen und den Rundfunk unter starke Kontrolle der Regierung stellt (Umwandlung in Kulturinstitute). Worin sehen Sie den Sinn dieser Maßnahmen? Sind sie positiv oder negativ zu bewerten? Würden Sie von einer »Gleichschaltung«, im Sinne einer Einschränkung der Demokratie, sprechen? Und welche Reformen kommen als nächstes?

Matthes: Die Medienreform hat wieder mit der Überzeugung der PiS zu tun, dass Medien, die ihnen nicht wohlgesonnenen sind, dazu beigetragen haben, dass sie 2007 abgewählt wurde (Stichwort: Verfolgung/Paranoia). Diese Maßnahmen dienen natürlich der politischen Kontrolle der Medien und sind insofern negativ zu bewerten. Zugleich sind sie nicht ganz verständlich, denn in Polen gibt es ein durchaus pluralistisches Spektrum an Medien. So sind einige Zeitungen, Radio- und Fernsehsender der aktuellen Regierungspartei durchaus wohlgesonnen.

Wenn man nicht damit leben kann, dass es auch kritische Medien gibt, dann ist das nach meinem Empfinden eine für Demokraten eigenartige Haltung. Man kann nicht erwarten, dass einem alle Medien nach dem Munde schreiben. Es ist zudem die Aufgabe von Medien, zu kontrollieren.

Man muss allerdings auch sehen, dass diese Reform nur die staatlichen Medien betrifft und dass die privaten Medien in Polen traditionell schon immer recht kritisch berichtet haben – egal wer an der Macht war. Denn es hat schon immer (teilweise geglückte) Versuche gegeben, die Aufsichtsbehörden der staatlichen Medien politisch zu kontrollieren und mit Gefolgsleuten der jeweiligen Regierungsparteien zu besetzen.

Insofern mache ich mir weniger Sorgen um die Medienfreiheit und Demokratie. Ich würde auch nicht von »Gleichschaltung« sprechen. Aber es ist auf jeden Fall eine Maßnahme, die politische Kontrolle über Medien bewirkt und die eigentlich für eine souveräne Regierung nicht notwendig ist.

Zu möglichen weiteren Reformen: Was bereits begonnen wurde und wo es vermutlich noch weitergehen wird, sind Reformen im Justizwesen. Es gibt den Plan, die Staatsanwaltschaft wieder der politischen Kontrolle des Justizministeriums zu unterstellen. Das gab es schon früher in Polen, wurde aber vor ein paar Jahren unter der PO-Regierung abgeschafft, auch als Reaktion auf die Empfehlung internationaler Rechtsexperten.

Darüber hinaus gab es Ankündigungen, dass die Besetzung der Gerichte einer größeren politischen Kontrolle unterworfen werden soll; ebenso im gesamten Beamtenapparat, was womöglich bis auf die Ebene von Schulleitungen reichen soll. Das würde bewirken, dass bestimmte erfolgreiche Reformen der letzten Jahre, die darauf abzielten, einen professionellen und unpolitischen Beamtenstaat herauszubilden, untergraben würden.

KATAPULT: Wie werden die Reformen innerhalb Polens, also in der Presse und der Gesellschaft, bewertet?

Matthes: In der Presse werden sie – je nach Ausrichtung – entweder kritisch bewertet, wie durch die Tageszeitung »Gazeta Wyborcza« oder die Wochenzeitung »Polityka«. Andere Zeitungen sind da eher moderat in ihrem Urteil. Das sind dann diejenigen, die der Regierungspartei politisch näher stehen. Für sie ist die Besetzung bestimmter Spitzenpositionen durch Personal der Regierung ein ganz normaler Vorgang in jeder Demokratie. Daher solle man sich darüber nicht so sehr aufregen.

In der Gesellschaft findet man eine ähnliche Reaktion. Auf der einen Seite gab es große Bewegungen und Proteste gegen die Maßnahmen der Regierung. So hat sich ein »Komitee zur Verteidigung der Demokratie« (Komitet Obrony Demokracji) gegründet, das sehr viel Zulauf erfahren hat. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Demonstrationen für die Regierung, die deren Reformen unterstützen. Und es gibt natürlich auch einen Teil in der Bevölkerung, dem das völlig egal ist.

KATAPULT: Die EU schaut besorgt bis kritisch auf die Reformen. Am 13. Januar will sie nun über die Lage in Polen beraten. Wie wahrscheinlich ist eine Prüfung der Gesetzeslage und Verfassungswirklichkeit Polens durch die EU (Rechtsstaatsmechanismus) beziehungsweise wie wahrscheinlich ist eine Sanktionierung durch die EU?

Matthes: Die Prüfung durch die EU ist ein mehrstufiges Verfahren. Sie ist 2014 eingeführt worden in Reaktion auf die gefühlte und auch tatsächliche Handlungsunfähigkeit gegenüber Ungarn. Seit der Verabschiedung des EU-Vertrages gibt es den Mechanismus nach Artikel 7, der besagt, dass man die Stimmrechte im Rat aussetzen kann, wenn ein Mitgliedstaat bestimmte Normen des EU-Vertrages missachtet.

Dafür muss man jedoch verschiedene Mehrheiten zwischen den verschiedenen Mitgliedsstaaten zusammenbringen, was bei 28 Ländern vergleichsweise schwierig ist. Daher hat man sich dieses dreistufige Verfahren ausgedacht, sodass man zunächst beobachtet, prüft, konsultiert und mit dem betroffenen Land in den Dialog tritt.

Das scheint ein realistischer Weg zu sein. Ich könnte mir vorstellen, dass die EU ihn beschreitet, schon allein, um sich selber nicht der Glaubwürdigkeit zu berauben. Was da aber am Ende herauskommt, muss man sehen. Bislang hat Polen darauf noch gar nicht reagiert.

In Ungarn war es so, dass man der EU immer scheibchenweise entgegengekommen ist, immer soweit, dass man nicht formal sanktioniert werden konnte. Vermutlich wird das mit Polen ähnlich ablaufen. Es ist auch die Frage, wie sich die Umfragewerte der Partei entwickeln werden und wie viel Gegendruck es auf nationaler Ebene geben wird.

Natürlich ist das Problem dabei auch, dass bei einer Regierung, die ohnehin schon integrationsskeptisch ist, solche Maßnahmen eher dazu beitragen, dass man sich erst recht »verfolgt« und kontrolliert fühlt. Insofern bedarf es bei dieser Maßnahme auch sehr viel diplomatischem Feingefühl.

KATAPULT: Bevor Polen sein Verfassungsgericht reformierte, tat dies bereits Ungarn. Gibt es Befürworter unter den osteuropäischen (oder anderen) Staaten hinsichtlich des Kurses von Polen? Sind derartige Reformbewegungen in anderen osteuropäischen (oder anderen) Staaten zu vermuten?

Matthes: Über die Flüchtlingspolitik haben wir noch gar nicht gesprochen, aber da gibt es schon Staaten, die eine einheitlich kritische Meinung vertreten. Ich denke da beispielsweise an die slowakische Regierung. Dass diese jetzt aber in ähnlicher Weise ihr Verfassungsgericht reformieren wollte, ist mir nicht bekannt.

Gleichzeitig ist es so, dass gerade das polnische und das ungarische Verfassungsgericht unter den osteuropäischen Staaten die umfassendsten Kompetenzen besaßen und auch immer wieder durch ihre Rechtsprechung zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit beigetragen haben. Es gab wiederholt Situationen, in denen sie politischem Druck widerstehen mussten, was in den Nachbarstaaten in dem Umfang eben nicht gegeben war.

Wenn man als Regierung Kontrolle von außen reduzieren möchte, dann ist das Verfassungsgericht die erste Institution, die man sich vornehmen muss – so im polnischen und im ungarischen Fall.

Ob das auch der Wunsch von Politikern anderer Länder ist, weiß ich nicht. Aber man muss auch sagen, dass gerade in diesen beiden Ländern die Gerichte immer ein hohes Ansehen und Vertrauen in der Bevölkerung genossen. Umso bedauerlicher ist es, dass sie in beiden Ländern solchen massiven Angriffen ausgesetzt sind.

Hinsichtlich anderer Themen, die Europa bewegen – wie beispielsweise der Umgang mit Flüchtlingen –, ist da schon eher von ähnlichen Auffassungen auszugehen. Nachdem die vorherige polnische Ministerpräsidentin, Ewa Kopacz, eingelenkt hatte und sich bereit erklärte, mehr Flüchtlinge aufzunehmen und Quoten zuzustimmen – die polnische Kirche hatte schließlich auch für mehr Barmherzigkeit plädiert –, wird man jetzt wieder einen stärker abgrenzenden Kurs fahren. Da finden sich sicher auch »Sparringspartner« in den Nachbarländern.

Das Interview führte Tim Ehlers.

Fußnoten

  1. Entfernung von politisch belasteten Mitarbeitern.

Autor:innen

Humboldt-Universität zu Berlin

Forschungsschwerpunkte
Mittel- und Osteuropa, insbesondere Polen, Ungarn, baltische Staaten
Regionale Kooperation, Ostseekooperation und EU-Erweiterung
Politischer Wandel und Demokratisierung
Vergleichende Regierungslehre
Policy-Forschung, insbesondere Renten- und Sozialreformen
Politik und Gesellschaft Deutschlands

Geboren 1983, ist seit 2015 Redakteur bei KATAPULT und vor allem als Layouter, Grafiker und Lektor tätig. Er hat Germanistik, Kunstgeschichte und Deutsch als Fremdsprache an der Universität Greifswald studiert.

Sein wissenschaftliches Hauptinteresse liegt im Bereich der Sprachwissenschaft.

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