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Naher Osten

Der Sündenbock der Autokraten

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Am 16. Mai 1916 unterzeichneten der britische Diplomat Sir Mark Sykes und sein Kollege François Georges Picot das geheime Sykes-Picot-Abkommen, dem sich später auch Italien und Russland anschlossen. Sie teilten damit das Osmanische Reich während des Ersten Weltkriegs unter sich auf. Im Nahen Osten gilt die Grenzziehung bis heute als Wurzel aller Konflikte.

Noch heute wird das Sykes-Picot-Abkommen in vielen arabischen Staaten intensiv in den Schulen behandelt. Inwieweit hatte es Einfluss auf die Zukunft des Nahen Ostens?

Natürlich war Sykes-Picot ein wichtiges Element dieser westlichen beziehungsweise europäischen Machtpolitik in der arabischen Welt, aber es war ja nicht das einzige – und das ist das Kuriose daran. So war es auch nicht dieses Abkommen, das maßgeblich die Zukunft des Nahen Ostens geprägt hat; letztendlich ist es aber das, worauf immer Bezug genommen wird.

Es gibt viele andere Abkommen, Vereinbarungen und machtpolitische Entscheidungen, die die Gestalt des Nahen Ostens auch geprägt haben. Aber Sykes-Picot hat eben all diese dramaturgischen Qualitäten: Es wurde geheim vereinbart, es wurde von zwei eigentlich relativ wenig bekannten Figuren ausgearbeitet und es besitzt alle verschwörungstheoretischen Aspekte, die man sich ausmalen kann. Das macht das Abkommen als vermeintliche Wurzel allen Übels auch so attraktiv.

Sie haben schon in ihrem Artikel für das IPG der Friedrich-Ebert-Stiftung »Der Sykes-Picot-Komplex« behauptet, dass die tatsächlichen Folgen des Abkommens überschätzt würden. Warum denn genau?

Es gab in der Folge ja eine ganze Serie von politischen Entscheidungen beziehungsweise internationalen Regimen: zum Beispiel die Konferenz von San Remo, die Konferenz von Sèvres, die Pariser Vorortverträge. Dazu gehören auch die Folgen des Zweiten Weltkriegs oder die Suezkrise und die internationalen Abkommen des Völkerbundes, die die Konkursmasse des Osmanischen Reiches aufgeteilt haben. Das waren ja nicht unbedingt Bestandteile des eigentlichen Sykes-Picot-Abkommens. Man kann jetzt argumentieren, dass es quasi mittelbare Folgen gewesen seien. Letztendlich reiht sich das Abkommen in eine Serie internationaler Beschlüsse und Abkommen ein, von denen es nicht das folgenschwerste ist.

Wenn wir uns die Karte des französischen Einflussgebietes von Sykes-Picot anschauen, stellen wir fest, dass nur zum Teil natürlich oder historisch zusammenhängende Gebiete getrennt worden sind

Und was sind Ihrer Ansicht nach die tatsächlichen Ursachen, die für den Zerfall der derzeitigen staatlichen Strukturen in Syrien und im Irak verantwortlich sind?

Zuerst hat das mit Sykes-Picot gar nichts zu tun. Zum Beispiel wird im Zusammenhang mit dem Kampf gegen den IS des Öfteren erwähnt, dass natürlich oder historisch zusammenhängende Gebiete im Sykes-Picot-Abkommen getrennt worden seien. Wenn wir uns einmal die Karte des französischen Einflussgebietes von Sykes-Picot anschauen, stellen wir fest, dass das nur zum Teil der Fall ist. Nehmen Sie etwa die Gebiete am mittleren Euphrat. Das ist ein gewachsener Kulturraum, der unter anderem von Raqqa bis nach Mossul reicht. Die heutige Grenze zwischen Syrien und Irak wurde zudem erst später gezogen.

Der besagte Kulturraum sollte dem Sykes-Picot-Abkommen nach zusammenhängend bleiben. Aufgrund britischer Öl-Interessen im Irak wurde das später revidiert. Aber das Sykes-Picot-Abkommen hat diesen zusammenhängenden Kulturraum nicht grundsätzlich gespalten.

Das hat man natürlich nicht aus Rücksichtnahme auf die kulturellen Begebenheiten in Syrien und im Irak getan. Offensichtlich gab es eine Anknüpfung an osmanische und vorosmanische Traditionen – und gewachsene Verkehrswege.

Das Argument, der Westen habe irgendwie unsinnige Grenzen gezogen, die dazu geführt haben, dass Staaten entstanden sind, mit denen sich die Menschen in der Region nie identifiziert haben, ist nur zum Teil zutreffend. Es gibt und gab später auch einen sehr ausgeprägten irakischen, syrischen, jordanischen oder auch libanesischen Nationalismus. Es gab Menschen – und zwar eine kritische Masse –, die sich mit den neu entstandenen Nationen identifiziert haben, zum Teil auch mit deren Grenzen.

Das Chaos im Nahen Osten hat nichts mit der Grenzziehung der Europäer zu tun, sondern damit, dass es nicht gelungen ist, dort Staaten mit Institutionen aufzubauen, die im Dienste ihrer Bürger stehen

Es bedeutet aber nicht, dass die Bewohner des Nahen Ostens nur eine Identität haben. Sie haben unter Umständen mehrere oder parallele Identitäten und Bezugspunkte. Das Chaos im Nahen Osten hat nichts mit der Grenzziehung der Europäer zu tun, sondern maßgeblich damit, dass es nicht gelungen ist, dort Staaten aufzubauen, die Institutionen besitzen, die tatsächlich diesen Namen verdienen und die im Dienste ihrer Bürger stehen. Stattdessen sind vor allem Despotien entstanden. Staaten, die keine oder kaum staatliche Funktionen im positiven Sinne übernehmen.

Außerdem: Wir können immer auf die Geschichte der europäischen Mandatsmächte oder der europäischen Expansionsbestrebungen im Nahen Osten schauen. Wir dürfen aber nicht außer Acht lassen, dass es vorher ein Osmanisches Reich gab mit seiner Minderheitenpolitik und seiner Politik im Nahen Osten. So ist die osmanische Kolonial- oder Imperialpolitik in der Region mindestens so folgenschwer und bedeutsam wie die der westlichen Mächte.

Das Problem ist bloß, dass diese osmanische Geschichte kaum ein Mensch in Europa kennt. Das betrifft übrigens auch viele Experten. Dementsprechend wird immer das Thema Sykes-Picot fokussiert und der osmanische Hintergrund vernachlässigt.

Rückt das die Türkei in die Verantwortung?

Selbstverständlich auch. Der Völkermord an den Armeniern – und anderen christlichen Minderheiten wie den Aramäern – wäre ein Beispiel dafür. Dieser war nicht nur für die türkische oder armenische Geschichte relevant, sondern hat auch seinen Schatten auf die gesamte Geschichte der Region des Nahen Ostens geworfen. Und den Konfessionalismus als Herrschaftsinstrument im Nahen Osten haben ja nicht die Briten und die Franzosen erfunden – er geht auf frühislamische Ideologien oder politische Vorstellungen zurück. Wirklich institutionalisiert wurde er in der osmanischen Zeit. So haben die Franzosen den Nahen Osten ja nicht nach Konfessionen aufgeteilt, sondern sie haben unter anderem die osmanischen Herrschaftsverhältnisse tradiert.

Meinen Sie, dass der Nahe Osten seine Vergangenheit aus einer neuen Perspektive betrachten sollte? Bedarf es einer Revision seiner Geschichtsschreibung?

Absolut. Aber das Wort Revision halte ich immer für schwierig. Denn mit Revisionismus meint man schnell eine Infragestellung von historischen Wahrheiten – zumindest im europäischen Kontext. Die Geschichte der arabischen Republiken – die jüngere Geschichte im 20. Jahrhundert – muss in Bezug auf ihre angeblich säkularen, überkonfessionellen Qualitäten komplett überarbeitet werden. Vorher kann man die Entstehung dieser Machtkomplexe nicht verstehen. Denn sie waren zu einem Großteil pseudosäkular, wie die Beispiele Syrien und Irak in besonderer Weise zeigen.

Regime wie die Saddam Husseins oder Hafiz al-Assads sind nicht ohne Grund entstanden

Solche Regime wie die Saddam Husseins oder Hafiz al-Assads sind nicht ohne Grund entstanden. Die Grundlage ihrer Entstehung muss nicht nur neu erforscht – sie wird ja schon erforscht –, sondern auch in den Staaten des Nahen Ostens verstanden werden. Nur dann kann man eigentlich verhindern, dass so etwas noch einmal passiert, und vor allem, dass solche radikalen Bewegungen wie der Islamismus oder der Dschihadismus erstarken.

Dann wäre anstelle des Wortes »Revision« der Begriff »Neubewertung« angebrachter?

Genau. Schauen wir einmal nach Israel: Die gesamte zionistische Bewegung folgt ja zunächst einer säkularen Ideologie, in der eigentliche und fortgesetzte Kritik, Dissens und Auseinandersetzung mit Gegenpositionen durchaus üblich waren. Was allerdings die Geschichte des Staates Israel angeht, so hat sich dieses Land jahrzehntelang von dem Mythos genährt, ausschließlich Opfer zu sein, umringt von übermächtigen arabischen Staaten, die es vernichten wollten. Deshalb, so das Narrativ, habe man gar keine andere Wahl gehabt, als den Palästinensern gegenüber – oder allgemein den Arabern in Palästina – repressiv zu sein, um sich Luft zum Atmen zu verschaffen.

In den 1980er-Jahren gab es eine detaillierte Aufarbeitung dieses Mythos, indem israelische Historiker gezeigt haben, dass Vertreibung für Personen wie Staatsgründer Ben Gurion ein wesentliches Instrument dabei war, einen demokratischen Staat aufzubauen, mit einer mehrheitlich jüdischen Bevölkerung, die dann die Regeln dieses Gemeinwesens akzeptiert. Bis heute ist es selbst in diesem demokratisch strukturierten und von der demokratischen Kultur geprägten Staat nicht gelungen, diese historische Realität mehrheitsfähig zu machen.

Eines dieser Organe, die für eine Aufarbeitung einstehen, wäre die Tageszeitung Haaretz. Doch diese stellt in Israel lediglich eine Minderheit dar. Wie sieht die Situation in den arabischen Ländern aus?

In vielen arabischen Staaten ist die Lage noch extremer. Das betrifft sowohl die selbstkritische Auseinandersetzung mit den arabisch-israelischen Kriegen und der eigenen Politik gegenüber Israel als auch die sachliche Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte, von der letztendlich viele Menschen profitiert haben.

Dank der französischen Präsenz in Syrien gab es viele Menschen, die überhaupt erst gelernt haben, zu lesen und zu schreiben, und danach sogar erst ihren eigenen Koran lesen konnten. Denn sie sind in französische Schulen gegangen und wurden dort ausgebildet. Und auch das ist Teil der historischen Identität.

Die Diktaturen und politischen Autoritären benutzen Sykes-Picot als Argument, um von ihrer eigenen Schuld abzulenken

Es hat also keinen historischen Wert, fortwährend nur Sykes-Picot für das Chaos im Nahen Ostens verantwortlich zu machen. Schlimmer noch: Die Diktaturen und politischen Autoritären benutzen dieses Argument, um von ihrer eigenen Schuld abzulenken und sich selbst zu legitimieren.

Um eine zweite Weimarer Republik zu verhindern, haben die Alliierten die Deutschen durch die Einführung der Politikwissenschaft demokratisch erziehen wollen. Sollte der Westen bei den Flüchtlingen oder einem Nachkriegs-Syrien ähnliche Maßnahmen ergreifen?

Damit den Staaten des Nahen Ostens der richtige Umgang mit ihrer Geschichte gelingt, braucht man natürlich ein neues Bildungssystem. Ich denke nicht, dass der Westen den Syrern so etwas auferlegen kann. Entscheidender als die politikwissenschaftliche Umerziehung zu guten Demokraten ist eine lückenlose Aufarbeitung der Vergangenheit und der historischen Narrative. Nur eine wirklich fundierte und ehrliche Aufarbeitung der Vergangenheit kann dazu beitragen, dass die Menschen wieder Vertrauen in die Institutionen des Staates gewinnen.

Ein Widerstreit der verschiedenen Versionen, der zudem nicht öffentlich geführt wird, befördert Verschwörungstheorien. Mit Verschwörungstheorien kann man wunderbar herrschen, weil sie immer präsent sind, sie trotzdem jederzeit auch bequem widerlegen kann, aber niemals wirklich ausräumt.

Es fehlt eine historische Wirklichkeit, auf die man sich einigen kann. So würde zum Beispiel nach der deutschen Niederlage im Zweiten Weltkrieg heute kein ernstzunehmender Historiker den Holocaust infrage stellen. In der arabischen Welt passiert das nach wie vor, nicht nur weil Menschen über die europäische Geschichte wenig informiert sind. Sondern weil es eben diese Kultur der wirklich gut dokumentierten historischen Auseinandersetzung in der Form nicht oder nur unzureichend gibt. Und weil im Grunde im Nahen Osten ein fortwährendes Zusammenspiel an historischen Halbwahrheiten existiert, das immer weiter tradiert wird.

Da es also keine historische Wirklichkeit gibt, ist es als Diktator ganz einfach, zu herrschen und seine eigene Wirklichkeit staatlich zu verordnen.

Das Interview führte Mounir Zahran

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Fußnoten

  1. Gerlach, Daniel: Der Sykes-Picot-Komplex, auf: ipg-journal.de (16.05.2016).

Autor:innen

Schwerpunkte
Sprachphilosophie
Friedens- und Konfliktforschung

geboren 1977 in Wuppertal, Ist Mitbegründer und Chefredakteur des Magazins „Zenith – Zeitschrift für den Orient“, das sich mit dem Nahen Osten, Afrika, Asien und der muslimischen Welt beschäftigt. Zu seinen Schwerpunkten zählen Syrien, der Irak, Libyen, Zeitgeschichte, diktatorische Regime und der Islamische Staat. Er studierte Geschichte und Orientalistik in Hamburg und Paris.

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